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Dubiose Maastricht-Kriterien

Von Kunibert Raffer

Gastkommentare

Wann steckt ein Land in einer Schuldenkrise? Ein paar nüchterne Fakten zu Italiens Schulden.


Italien erhitzt die Gemüter. Wieder ein Pleitestaat? Was müssen die für die Fehlkonstruktion Euro logisch, leider nicht pekuniär "verantwortlichen" EU-Funktionäre (somit wir Steuerzahlende) wieder an Geld zur Krisenbekämpfung aufbringen? Größer als Zypern oder Griechenland, kann sich Italien gegen EU-Unsinn wehren und eine große EU-Krise auslösen.

Österreichs Finanzminister Hartwig Löger hat Italien ermahnt, die Maastricht-Regeln einzuhalten. Doch die Kriterien, die vor 25 Jahren in Kraft getreten sind, entbehren jeder theoretischen oder empirischen Grundlage. Offenbar wurden sie gewählt, um keynesianische Politik, die das Zeitalter der Massenwohlfahrt nach 1945 ermöglichte, für immer zu verhindern. Wären 60 Prozent Schulden zum BIP tatsächlich eine notwendige Bedingung, hätten Belgien, Italien und später Griechenland nicht aufgenommen werden dürfen. Irland und Spanien lagen bei Krisenausbruch deutlich darunter. Bei Griechenland wusste man überdies, dass die Daten bei der Aufnahme dubios waren.

Zweierlei Maß der EU im Umgang mit Italiens Schulden

Italien hatte vor der Euro-Einführung laut Eurostat die Staatsverschuldung von 124,8 auf 115,5 Prozent (1999) reduziert - ein Abbau, der sich nach der offiziellen Euro-Einführung 1999 als Buchgeld weiter verringerte, allerdings bis zur Euro-Bargeldeinführung 2002 mehr oder weniger stagnierte. Belgien schaffte 1999 mit 114 Prozent eine deutliche Reduzierung von 137,9 (1993, immerhin besser als Italien) aber weit jenseits der offiziell nötigen 60 Prozent. Die Euroländer liegen insgesamt satt über 60 Prozent (2017 fast 90 Prozent laut Eurostat) - eine Grenze, die auch Deutschland und Frankreich immer wieder gebrochen haben. Belgien liegt über 100 Prozent. In Portugal (125,7 Prozent) ist laut EU die Krise gebannt.

Eurostat dokumentiert einen Schuldenaufbau Italiens zwischen 2007 und 2014 von 32, Prozent (von 99,8 Prozent des BIP auf 131,8 Prozent), was jährlich 4 Prozent über sieben Jahre entspricht und selbst die EU nicht als Annäherung an Maastricht definieren kann. Allerdings verhielten sich damalige italienische Regierungen anders als die gegenwärtige, der die EU ein Defizit von 2,4 Prozent als Vertragsverletzung ankreidet - im Hinblick auf die 60-Prozent-Barriere ist das zwar rein technisch korrekt, aber durchaus hinterfragbar.

Laut dem Internationalen Währungsfonds (IWF) hatten im Jahr 2017 die "advanced economies" (Industriestaaten) im Schnitt ein Schuldenverhältnis zum BIP von 103,4 Prozent. Singapur hatte 111,1 Prozent, die USA 105,2 Prozent (beide mit exzellenten Ratings), Japan 237,6 Prozent, Barbados 157,3 Prozent (alle ohne krisenschaffende EU-Kriterien). In keinem dieser vier Staaten gibt es eine Schuldenkrise, allerdings auch keine EU-Bürokraten, die diese erst hervorrufen. Tut die EU das, um "falsche" Wählerentscheidungen zu bestrafen, um ihre neuen Kriseninstrumente zu benutzen und die Demokratie in Schuldnerstaaten auszuschalten? Italiens Schulden werden zu etwa 60 Prozent von Inländern, vor allem Banken, gehalten, was ein wenig an Japan erinnert und ein stabilisierender Faktor ist.

Andere Konstruktionsfehler der Gemeinschaftswährung

Die "Süddeutsche Zeitung" ist eine der sehr wenigen Stimmen, die darauf hinweisen, dass die derzeitigen Regeln die Ungleichheit in der Eurozone zugunsten Deutschlands verstärken. Das Ausschalten ausgleichender Wechselkursveränderungen ergab eine Subvention deutscher Exporte. Zahlungsbilanzdefizite stiegen, weil Euroländer nicht mehr durch Abwertungen Defizite bekämpfen oder verhindern können. Darauf wurde schon vielfach hingewiesen.

Dieses Subventionsprogramm für Deutschland führt auch dazu, dass sich dort Überschüsse anhäufen, die (saldenmechanisch notwendig) als Kredite hauptsächlich an Südländer in der Eurozone vergeben werden. Irgendwann "müssen" dann deutsche und französische Banken auf Steuerzahlerkosten gerettet werden, wie alle mit erfolgreichem Volksschulabschluss nachrechnen können.

Die erfolgreiche Währungsunion USA ist viel besser organisiert. Mitglieder (Bundesstaaten) werden immer wieder insolvent, Bail-outs rigoros abgelehnt. Dies ist Euroländern vergleichbar: Es gibt auch für die US-Bundesstaaten keine Insolvenzregeln und ein Bail-out-Verbot. Den Dollar gibt es noch immer, was EU-Argumente, die Insolvenz eines Eurolandes zerstöre die Gemeinschaftswährung, als unwahr entlarvt. In Griechenland und Zypern haben private Anleger viel verloren - den Euro gibt es noch immer.

Die US-Notenbank Fed kann problemlos Staatsanleihen aufkaufen. Es gibt keine mit jenen der Eurozone vergleichbaren Probleme. Die USA haben einen Ausgleichsmechanismus eingebaut, den Interdistrict Settlement Account (ISA). Jedes Jahr werden die ISA-Salden saldiert und bezahlt. Die problematischen Target-2-Ungleichgewichte ohne Obergrenze, ein Produkt der Exportsubventionierung Deutschlands, können nicht entstehen. Das "Handelsblatt" bezifferte den positiven Saldo der Bundesbank Mitte 2018 mit fast einer Billion Euro. Italien allein erklärt fast die Hälfte davon, was im offiziellen Schuldenstand gar nicht aufscheint. Die Konstruktion des Euro wird diese Schieflage weiter verschlechtern, obwohl eine Begleichung schon jetzt illusorisch erscheint.

Die soziale Situationder italienischen Bevölkerung

Solange Italien im Euro bleibt, ist dies unerheblich. Des Kaisers neue Kleider können weitergespielt werden. Ein Austritt ist aber eine Trumpfkarte Italiens. Fachwissen in den USA vermeidet eben leicht Probleme, die Dilettanten erst schaffen. Die Handlungen der derzeitigen Regierung müssen unter Berücksichtigung sozialer Fakten beurteilt werden. Laut IWF-Länderbericht 2017 lag Italiens reales, verfügbares Pro-Kopf-Einkommen unter dem Niveau vor der Finanzkrise und fiel hinter andere Euroländer zurück. Erst in einem Jahrzehnt könne man erwarten, dass das reale Pro-Kopf-Einkommen wieder das Vorkrisenniveau erreiche, heißt es. Auch die OECD sieht ein klares Armutsproblem. Dies kann man nicht einfach der EU oder dem Euro anlasten. Fehler Italiens kommen zumindest ebenso zum Tragen. Aber es ist ein Faktum.

Die Jugendarbeitslosigkeit betrug im vergangenen Jahr 35 Prozent, im Süden lag die Armutsrate bei 44 Prozent. Der IWF verlangt, auch wegen des geringen Transferanteils zugunsten von Leuten mit geringem Einkommen, ein universelles Programm gegen die Armut, wie es die Regierung will, was natürlich finanziell erhöhte Zuwendungen bedeutet.

Der Kampf gegen die Armuthat für die EU keine Priorität

Der "Economic Survey 2017" der OECD für Italien empfiehlt eine Mehrwertsteuererhöhung. Erstaunlicherweise soll der Ertrag weder für Soziales noch für den Schuldenabbau vergeudet werden, sondern Unternehmer bei Sozialabgaben (um 10 Prozentpunkte) entlasten. Auch ein Rückgang der effektiven Nachfrage, die Italien ökonomisch am Leben erhält, wird in Kauf genommen. Sähe die OECD die Schuldensituation so drastisch, wie sie manche Medien darstellen, müssten durch höhere Steuereinnahmen unbedingt Schulden abgebaut werden. Die Verringerung der Körperschaftssteuer von 27,5 auf 24 Prozent wird weder von der OECD noch vom IWF kritisiert, die Finanzierung der verlangten Anti-Armutsprogramme schon.

Der Versuch der derzeitigen Regierung, etwas für die vielen Armen und Arbeitslosen zu tun, wird seitens EU und EZB sofort abgeblockt. Rund 1 Prozent des BIP für den Bail-out nur zweier (!) Banken war kein Problem. Ebenso, dass Privatisierungen nur ein Fünftel der veranschlagten Summer erbrachten. Schließlich geht es ja wie in Griechenland darum, Volkseigentum billig an Investoren aus Gläubigerländern zu verschleudern. Der Hinweis auf die Verträge, der bei handzahmeren Regierungen nie erfolgte, ist unglaubwürdig. Defizite von deutlich unter 3 Prozent können nicht erdbewegend sein, hatte Belgien 1993 vor dem Euro schon fast 140 Prozent Schulden im Verhältnis zum BIP, ohne dass dies Besorgnis erregte. Doch die Finanzierung der durch die Menschenrechte garantierten Mindestlebensumstände ist, ebenso wie in Griechenland, für die EU inakzeptabel.

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