Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. Foto: Daniel Novotny

In diesen historisch aufgeladenen Novembertagen, wo sich alles ballt: Novemberpogrom, Republikausrufungen, Mauerfall. In diesem Chor der Erinnerungen und Vergangenheitsbeschwörungen ertönt auch eine andere Stimme. Genau genommen ist es nicht eine, sondern eine Vielzahl an Stimmen, die sich an diesem Samstag, dem 10. November, um exakt
16 Uhr in ganz Europa erheben werden: Unter dem Titel "The European Balcony Project" soll an diesem Termin gleichzeitig an vielen Orten in ganz Europa ein Manifest verlesen werden, das die Gründung der Europäischen Republik deklariert. Initiatoren der Aktion und Autoren des Manifests sind die Politologin Ulrike Guerot, der Schriftsteller Robert Menasse und der Theatermann Milo Rau. Sie erklären, "100 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs" wolle man die Zukunft selbst in die Hand nehmen und in einem Deklarationsakt eine "europäische Republik begründen" und alle, die sich hier befinden, zu deren Bürgern erklären: "Europäer ist, wer es sein will." Ein Gegenentwurf zur Realität der bestehenden EU. Es ist dieses Manifest, das diesen Samstag, von jedem, der es möchte, verlesen werden soll. Feierlich und öffentlich.

Es ist dies der Versuch, einen historischen Moment zu kreieren. Aber kann man einen historischen Moment einfach herstellen? Dekretieren? Diese Schwierigkeit ist den Initiatoren natürlich bewusst - weshalb sie auf eine Form, auf eine Szenerie zurückgreifen, die für solche Momente bereitsteht: Die Deklaration soll von Balkonen aus erfolgen. Von vielen Balkonen in ganz Europa. Denn Republiksgründungen sind immer von Balkonen aus erfolgt - von daher auch der Titel des Projekts.

Waren die historischen Vorbilder Politik mit theatralischem Gestus, so verkehrt das Balcony Project dies in einen theatralischen Moment mit politischem Inhalt. Ebenso wie es die Marschroute verkehrt: Die Deklaration steht nicht am Ende einer Bewegung, sondern soll vielmehr deren Anfang markieren. Es zielt also über ein reines Kunstprojekt hinaus.

Deshalb wird hier auch ein komplettes Paket angeboten. Nicht nur eine Inszenierung, sondern auch ein Narrativ - das Narrativ von den gleichen Rechten für alle Bürger. Denn die Rechtsgleichheit sei es, die den Gemeinsinn schaffe, so Ulrike Guerot.

All das mag utopisch klingen und blauäugig. Aber hier taucht eine lange nicht mehr gehörte Tonlage auf, eine Stimmung des Aufbruchs, eine Musik des Überzeugten, des Wollens. Und das ist ansteckend. Das Projekt hat bereits viele Unterstützer. 150 Kulturinstitutionen und Gruppen in ganz Europa werden zum selben Zeitpunkt das Manifest verlesen: das Burgtheater, das Thaliatheater, das Nationaltheater in Gent, aber auch eine Bibliothek in Lampedusa. Besonders schön sind die privaten Balkone, die angemeldet wurden. Denn hier geht es ja nicht um ein zentrales Ereignis, sondern um eine Blaupause, die jeder benutzen kann. Im Grunde reicht schon ein geöffnetes Fenster. Die Initiatoren werden ihr Manifest am Theater in Weimar verlesen, dort, wo vor 100 Jahren die Weimarer Republik gegründet wurde. Und auch die AfD wird dabei sein. In Greifswald hat sie schon eine Demonstration angemeldet. Für 16 Uhr.