
Politisches Feuilleton - das ist jenes Genre, dem sich diese Kolumne verschrieben hat. Politisches Feuilleton bedeutet meist, aktuelle Geschehnisse zu interpretieren. Mit Hilfe von Theorien und Überlegungen versuchen, gegenwärtige Entwicklungen zu lesen, zu verstehen. Hier wird also etwas Allgemeines - wie eben eine Theorie - auf etwas Besonderes, auf eine konkrete Situation angewandt.
Manchmal aber kann man auch die Richtung umdrehen und die Theorie selbst betrachten - dann wird gewissermaßen aus dem Theorienähkästchen geplaudert. Und genau das ist die heutige Marschrichtung.
Denn diese Woche war Andreas Reckwitz in Wien - jener deutsche Soziologe, der mit seinem wirklich fordernden Buch "Die Gesellschaft der Singularitäten" Furore gemacht hat. Für all jene, die nicht dabei waren, sei das aufgeschrieben - denn wie oft hat man schon Gelegenheit, eine komplexe Theorie vom Autor selbst in leicht verständliche Form übersetzt zu bekommen?
Es geht darum, die neue Art von Gesellschaft zu verstehen, in der wir oft noch mit den alten Kategorien im Kopf leben. Entscheidend ist für Reckwitz, dass heute ein "neuer Liberalismus" vorherrscht, der den wirtschaftlichen Neoliberalismus gleichermaßen wie den kulturellen Linksliberalismus umfasst. Diese beiden Tendenzen, also die wirtschaftliche Deregulierung und das kulturelle Ankämpfen gegen alte Normen, mögen zwar auf ersten Blick Gegner sein. Tatsächlich aber bilden sie für Reckwitz ein Ganzes. Denn so unterschiedlich sie auch sein mögen, operieren sie doch mit demselben Grundmuster. Beide kämpfen um eine Öffnung: sei es eine "Öffnung der Märkte", sei es eine "Öffnung der Identitäten und Konventionen".
Dieser doppelköpfige Liberalismus ist es, der die Gesellschaft heute prägt. Denn er bestimmt eine neue Klasse und damit eine neue Klassenordnung. Ja, Reckwitz spricht wieder von Klassen - aber er fasst diese neu. Vorherrschend ist für ihn eine "neue Mittelklasse", die eben Träger des gesamten Liberalismus ist - vom Kurz-Anhänger bis zum grünen Bobo. Diese hätten beide dazu beigetragen, die "alte Mittelklasse", die es nach wie vor gibt, zu deklassieren. Letztere, vom Industriearbeiter bis zum kleinen Angestellten, erleben einen Abstieg, der gar nicht ökonomisch sein muss, sondern vor allem eine Entwertung bedeutet: Entwertung ihrer professionellen Abschlüsse ebenso wie ihrer Anschauungen und Werte, die früher als "normal" galten, etwa Fleiß oder Treue. Diese Entwertungen werden als tiefgehende Kränkungen erlebt, die gesellschaftlich nicht mehr geheilt werden können. (Da kommen die Populisten ins Spiel.) Eben deshalb sieht Reckwitz diese Klassen nicht mehr rein ökonomisch, sondern wesentlich kulturell bestimmt - ohne dass sie darum weniger hierarchische Klassen wären.
Das Problem der meisten ehemaligen Volksparteien ist, dass sie noch auf die alte Klassenordnung geeicht sind und deshalb kein Angebot für diese auseinanderstrebenden Teile haben. Vielleicht auch nicht haben können. Wie soll man auch so unterschiedliche Wähler gleichzeitig adressieren? So lautet Reckwitz alles andere als optimistischer Befund: "Das Band zerreißt."