Irene Prugger, geboren 1959, Schriftstellerin und freie Journalistin, lebt in Mieming in Tirol.
Irene Prugger, geboren 1959, Schriftstellerin und freie Journalistin, lebt in Mieming in Tirol.

Als ich in einem Gespräch mit meiner fünfjährigen Nichte das Wort "Luftzug" in den Mund nahm, wurde mir erst durch ihren Blick bewusst, welch poetische Vorstellung sich in ihrem Kinderköpfchen zusammenreimte. Wir schickten also einen Luftzug durch die Luft und ließen ihn lustige oder kuriose Wörter voller Alltagspoesie einsammeln. Ein hübsches Gedankenspiel, auch geeignet als Aufwärmübung, zum Beispiel, wenn mir kein Anfang für einen Artikel einfällt.

Zwar gibt es durchaus nützliche "Anfangsfinder", nur leider sind das keine Hilfsmittel für Schreibende. Man findet das Wort in weniger poetischem Zusammenhang etwa auf den Packungen von Klarsichthüllen. Der Anfangsfinder ist eine minimale Verdickung auf der Rolle, die zeigt, wo man mit dem Abrollen beginnen soll.

Ich mag Wörter mit doppelter oder Mehrfachbedeutung - Homonyme, Polyseme, Homographe und Homophone, wie die Unterformen im Fachjargon heißen. Im schön gestalteten Buch "Die Wunderkammer der deutschen Sprache" (Herausgeber Thomas Böhm und Carsten Pfeiffer), das im Herbst 2019 im Berliner Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" erschien, sind solche zu finden. Für die Sprachschatzsammlung haben sich zudem bekannte Autorinnen und Autoren der Herausforderung gestellt, zehn Lieblingswörter aus der deutschen Sprache zu benennen.

Mirko Bonné nennt "Gras", "Gedicht", "Schatten" und "Würde". Auch Erik Fosnes Hansen neigt mit "Wipfeln" und "Wald" der Romantik zu, nennt aber zuvorderst "Vergangenheitsbewältigung" und "Azubi". Felicitas Hoppe zählt 56 Lieblingswörter auf, u.a. "Brot", "Kuss", "Betschwester", "Feuerlöscher" und "Pechvogel". Kathrin Kunkel-Razum begeistert sich u.a. für "Augenweide", "fluffig", "Gästin", "Meer" und "Sommerseeterrasse", Sibylle Lewitscharoff für "tiefliegend, "kurios", "blutarm", "murren" und "Rumpelkammer". Franz Hohler entschied sich für "gehen", "Sackmesser", "Birke", "Berg", "Postauto", "jetzt", "aber" und "Hohlersirup". Nein, falsch, in Hohlers Diktion heißt es "Holdersirup". Ansprechende Lieblingswörter hat auch Karen Duve: "Tollpatsch", "Lapislazuli", "Kulturbeutel" oder "Apfelsine" - wobei sie zu dieser anmerkt: "Und schon leuchtet die orange Sonne der Kindheit auf. Damals habe ich gedacht, die Apfelsine wäre das Weibchen zum männlichen Apfel."

Das lesenswerte Buch hält aber noch weit mehr parat. Etwa Zungenbrecher, Schein-Anglizismen, Schüttelreime, Palindrome, Ausdrücke aus dem Küchenlexikon, eine Kreuzfahrt durch die Seemannssprache, einen Streifzug durch den Fontane-Code, gegenseitige Dichterbeschimpfungen, verdrehte Weisheiten, zensurierte bzw. vom Aussterben bedrohte Wörter sowie Wörter und Unwörter des Jahres. In Österreich waren das "Töchtersöhne" (2011) und "Bundespräsidentenstichwahlwiederholungsverschiebung" (2016). Es ist damit zu rechnen, dass das (Un-)Wort des Jahres 2020 mit "C" beginnen wird.