Matthias G. Bernold, geboren 1975, lebt als Journalist in Wien.
Matthias G. Bernold, geboren 1975, lebt als Journalist in Wien.

Natürlich wussten die antiken Dichter das meiste bereits. In den großen Mythen um die Welt der Gottheiten- und heldenhaften Gestalten werden die Spielarten der menschlichen Psyche sichtbar: Versuchungen, Triebe, tiefe Gefühle. An den Figuren in den epischen Stücken zeigt sich eine grundlegende Eigenschaft des Menschen: seine Ambivalenz.

Nehmen wir den Zentaur. Das Mischwesen aus Mensch und Pferd, das schon bei Homer Erwähnung findet, ist die Verbindung aus animalischer Kraft und humanem Ideal. Wildheit, Lüsternheit und körperliche Stärke auf der einen Körperhälfte. Auf der anderen die als typisch menschlich bekannten Qualitäten: Intellekt, Eloquenz und edle Gesinnung.

Wiewohl diese Kombination dem einen oder der anderen auch heute noch erstrebenswert erscheinen mag, wussten bereits die weitsichtigen Griechen, dass der Zentaur ein Auslaufmodell war. Wildheit und Lüsternheit wollten schon im alten Griechenland sorgfältig eingehegt sein. Zumindest in der Literatur. Im legendären Zentaurenkampf gab der Lapithenkönig Peirithoos, unterstützt vom Helden Theseus, den Zentauren eines auf die Locken und vertrieb die Mischwesen schließlich aus Thessalien und damit weitgehend aus der Geschichtsschreibung.

4.000 Jahre später zeigt sich, was diese Verbannung des Animalischen beim Menschen inzwischen angerichtet hat. Im Speziellen seit sie sich mit der Digitalisierung koppelt. Der moderne Mensch, gerade in Zeiten von Lockdown und Homeoffice, ist zwar ebenfalls ein Hybridwesen. Jedoch eines von ganz anderer Natur als ein ungehobelter Zentaur, der in den Wäldern seinen niederen Gelüsten nachhängt: Jogginghose über dünnen, weitgehend nutzlos gewordenen Beinchen. Um die Körpermitte spannt sich der Bund. Darüber Hemd, Weste und duftendes Haar, um in der nächsten Video-Konferenz einen repräsentablen Eindruck zu erwecken.

Die verbliebenen tierischen Aspekte dieser neuartigen Existenz entsprechen der eines Blumentierchens, das sein stationäres Leben damit verbringt, darauf zu warten, dass ihm das Meer etwas Essbares vor die Polypen schwemmt. Wie eine Koralle sitzt der Mensch im
Homeoffice fest, während sein Geist immer weiter in digitale Welten und Project-Management-Tools vordringt. Unterbrochen nur vom gelegentlichen Klopfen an der Türe, wenn Online-Dienste Nahrung oder eine Kaffeemühle vorbeibringen. Neben Zähneputzen und dem Aufhängen der Wäsche ist denn auch das Mahlen von Kaffeebohnen die maximale körperliche Anstrengung, der sich der Heimbüromensch stellen muss.

Bleibt abzuwarten, welche Mythen künftige Dichter dereinst über diese Epoche der Menschheit singen werden ...