
Ich weiß nicht mehr, ob ich zuerst getauft oder geimpft wurde. Ich weiß nur, dass es ungefragt geschah, ich war ja noch ein Säugling. Aber auch meine Eltern sahen sich nicht groß vor die Wahl gestellt bei Tauf- und Impfempfehlungen. In diesem Bereich vertrauten sie den Experten für Seelenheil und den Experten für körperliche Gesundheit. Es war einfach so, und weil es einfach so war, war es auch so einfach.
In der Schule wurden wir dann (naja, zumindest in einigen Fächern) zu kritisch hinterfragenden Menschenwesen erzogen, und wir hinterfragten kritisch, trieben es mitunter auf die Spitze. Könnte zwei mal zwei nicht auch drei oder sechs ergeben, fragten wir unsere Mathematiklehrerin - weniger aus philosophischem Wissensdrang, sondern um von einer unliebsamen Aufgabe abzulenken. Sie ließ sich trotzdem auf die Diskussion ein und bemühte sich, Antwort zu geben, erklärte uns geduldig, dass es nicht so sehr auf das Wort, sondern auf den Wert ankomme. Aber irgendwann gelangte sie erschöpft an den Punkt, an dem sie kapitulierte: "Es ist einfach so. Wir machen jetzt mit dem Stoff weiter!"
"Es ist einfach so!" Das sagte ich auch zu meinen Kindern, wenn sich Warum- und Weil-Diskussionen nervend in die Länge zogen. Und manchmal fügte ich den pädagogisch wenig wertvollen Zusatz an: "Weil ich es sage!"
"Aha, und du machst das also, weil sie es sagen?", wurde ich mit abwertend-spöttischem Unterton von einer Bekannten gefragt, als ich ihr mitteilte, für eine Impfung bereitwillig den Ärmel hochzukrempeln - im Sinne der eigenen Gesundheit und der gesellschaftlichen Solidarität. Mit "sie" waren die Mediziner gemeint, auf deren Urteil ich mich bei der Risikoeinschätzung einer Impfung verlasse. Mein erprobter Hausarzt ist auch darunter. Vertrauen wird oft mit Naivität gleichgesetzt, übertriebenes Misstrauen kann aber ebenso naiv sein. Und da ich nicht die Absicht habe, Medizin oder Biologie zu studieren bzw. mich mit Sequenzanalysen, ACE-Hemmern, Spikeproteinen, "efficacy und efficiency", sterilisierender und partieller Immunität, respiratorischen Viren, T-Zellen und evolutionärem Selektionsdruck tiefgründig auseinanderzusetzen, bin ich auch in diesem Fall des Lebens auf Expertenmeinungen angewiesen.
Andere jedoch haben sich schon eifrig ins Studium geworfen. Als ich neulich beim Warten an einer Kassa das Wort "Fluchtmutanten" aufschnappte, war nicht von Migration die Rede, es ging natürlich um Corona. Trotz Sicherheitsabstand konnte ich mithören. Zwei Mediziner unter sich? Kann schon sein, aber gut getarnt. Beide Männer trugen den Arbeitsoverall einer Baufirma.
Also doch ein spätes Medizinstudium, um mitargumentieren zu können? Aber die nächste zu erwartende Krise verlangt gewiss nach anderen Kompetenzen. Die Wahl zu haben ist gut, manches wäre aber unkomplizierter, wenn man ohne lange zu hinterfragen sagen könnte: "Es ist einfach so!" Aber so einfach ist das nicht.