Holger Rust, geboren 1946, ist Publizist und Professor für Soziologie in Hannover.

Holger Rust, geboren 1946, ist Publizist und Professor für Soziologie in Hannover.

Die Geschichte, die ich hier erzählen will, sozusagen als Hintergrundbericht zu einer kleinen Spruchweisheit, die auf sehr interessante Weise sehr aktuell ist, beginnt irgendwann in den 1960er Jahren im Büro des Soziologen Robert K. Merton - nicht zu verwechseln, aber doch verwandt mit dem Wirtschaftswissenschafter und Nobelpreisträger Robert C. Merton: Robert K. ist der Vater. Der lehrte Soziologie an der Columbia University. Wobei man erwähnen sollte, um die Fallhöhe der nun folgenden munteren Übung in NI (Natürlicher Intelligenz) angemessen zu beschreiben, dass der akademische Lehrer von Merton sr., Talcott Parsons, Soziologie-Professor in Harvard war und dass der Sohn, Merton jr., heute an der Harvard Business School lehrt.

Nun ja: Eines Tages also in diesen Jahren schickte der Historiker Bernard Bailey (noch ein Harvardprofessor) seinem Kollegen Merton einen Zettel mit einer Frage nach New York: Woher bitte, wollte der Historiker wissen, stamme eigentlich jenes Sprichwort, demzufolge Zwerge, die auf den Schultern von Riesen säßen, weiter sähen als die Riesen selbst? Merton (also Robert K.), dessen Forschungsgebiet die Entstehung des Wissens war, verfügte als Professor einer Elite-Universität natürlich über ein fantastisches Archiv mit Klassikern, von denen heute nicht einmal Google etwas ahnt, mit jeder Menge Erstausgaben und seltenen Manuskripten.

In diesem Material suchte er nach Zitierungen der Weisheit, fasste zusammen, was er alles so gefunden hatte, und sandte das Ergebnis an seinen Kollegen Bailey - ein über 200 Seiten starkes Dos-sier, das dem Spruch in die tiefsten Tiefen der Geschichte nachspürte, ihn in ungezählten Texten formuliert, ja sogar in sakralen Bauwerken in Stein gemeißelt fand, auf Gemälden festgehalten und in Traktaten zu der einfachen Weisheit verdichtet: Die Zwerge symbolisierten die Jugend mit ihrem neuen Wissen, die Riesen die an Erfahrung reichen Altvorderen. Auf deren Schultern also sitzt der kecke Nachwuchs und berichtet nach unten, zu welch erweiterten Horizonten man aufbrechen könnte.

Wenige Jahre später kam das Skript als Buch auf den Markt - auch auf Deutsch im Syndikat-Verlag: "Auf den Schultern von Riesen". Es war schnell vergriffen und wurde dann als Taschenbuch bei Suhrkamp aufgelegt. Ein Geheimtipp mit der klaren Botschaft: Es ist unergiebig und fahrlässig, die Zwerge nur bei der Hand zu nehmen und in den niedrigen Bahnen von Tradition und Habitus zu führen, wie das oft geschieht.

Die Zwerge gehen dann bei Fuß und finden ihre Horizonte in Kniehöhe. Doch Vorsicht: Wie wir aus der Weisheit der Märchen wissen, sind Zwerge schnell gereizt. So werden sie eines Tages den Riesen auf die Schultern steigen, unbemerkt und heimlich, um über den alten Horizont hinaus zu sehen. Wenn sie genug gesehen haben, springen sie ab, nehmen Wissen mit und erfinden heimlich neues, um den Alten Feuer unterm Hintern zu machen, und tanzen dazu.