"Wir haben die Kunst", schrieb Friedrich Nietzsche einmal, "damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen." Und er begründete dies mit einem einfachen Gedanken: "Die Wahrheit ist hässlich." Wer wollte dem widersprechen? Wohin man blickt: Aggression, Krieg, Grausamkeit, Zerstörung, Machtkämpfe, schwere Waffen, Wirtschaftssanktionen, Embargos, Ausbeutung, Umweltzerstörung, Klimakatastrophe. Aber kann, darf die Kunst angesichts dieser Zustände noch ein Trost sein, eine Ablenkung, ein Refugium? Können wir uns ins Schöne flüchten, während in der Wirklichkeit die Bestien toben?

Der Autor ist ein österreichischer Philosoph, Essayist und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für "Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik" an der Universität Wien. - © Heribert Corn
Der Autor ist ein österreichischer Philosoph, Essayist und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für "Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik" an der Universität Wien. - © Heribert Corn

Spätestens seit der klassischen Moderne gilt tatsächlich, dass Schönheit kein Ziel der Kunst mehr ist. Man kann Nietzsche mit Recht entgegenhalten, dass in den großen ästhetischen Entwürfen unserer Zeit das Hässliche, Eklige, Dissonante und Verstörende gesteigert, intensiviert und damit überhaupt erst benannt wird. Im Kunstschock sollte der Bürger die schreckliche Wahrheit über sich erfahren - und diese genießen. Die Sehnsucht nach dem Schönen und Reinen aber bleibt. Nur hat sie sich vom Werk auf den Künstler selbst und die kulturellen Institutionen, die seine Tätigkeit ermöglichen, verschoben. Die Gesinnung des Künstlers muss rein, seine politische Haltung untadelig und sein Sponsor über alle Zweifel erhaben sein.

Es ist eine subtile Ironie der Weltgeschichte, dass der Schriftsteller Lukas Bärfuss und die Regisseurin Yana Ross, die für die Salzburger Festspiele ausgerechnet eine neue Fassung von Arthur Schnitzlers "Reigen" vorbereiten, dagegen protestieren, dass zu den Sponsoren der Festspiele die Schweizer Bergbaufirma Solway gehört, der nicht nur Verbindungen nach Russland, sondern auch ökologisches und ethisches Fehlverhalten beim Abbau von Nickel in Guatemala vorgeworfen werden. Nun ist Schnitzlers "Reigen" ein Stück, das ob seiner unverblümten und obsessiven Thematisierung der Schattenseiten menschlicher Sexualität viele verstört, doch zumindest die Financiers solcher Zumutungen wünschen wir uns sauber und anständig.

Nickel kommt in unzähligen Gebrauchsgegenständen vor, nicht zuletzt in elektronischen Geräten. Ein wirksamer Protest gegen die dubiosen Praktiken seiner Gewinnung läge im heroischen Verzicht auf Smartphones und Laptops. Unmöglich. Die Wirklichkeit mag hässlich sein, leben müssen wir dennoch mit ihr. Wenigstens in der Kunst soll deshalb alles mit rechten Dingen zugehen. Vergessen wird dabei, dass sich die materiellen Grundlagen der Kunst immer schon aus jenen Überschüssen und Gewinnen speisten, die sich ungerechten Verhältnissen und einem veritablen Einsatz von Gewalt verdankten.

Kunst, und das ist gar nicht zynisch gemeint, ist das einzig akzeptable Verfahren der Geldwäsche: Aus dem, was die Biester dieser Welt ihr zustecken, macht die Kunst das Schöne. Es war Julius II., der letzte große Kriegspapst der Renaissance, der Michelangelo den Auftrag zur Gestaltung der Sixtinischen Kapelle erteilte. Hätte Michelangelo ablehnen sollen? Müssen wir die großartigen Fresken deshalb verhängen, übermalen oder abschlagen? Nein!

Große Profite, so wissen es die professionellen Kapitalismuskritiker, lassen sich ohnehin nicht auf ehrliche und unbedenkliche Art erzielen. Solange Kunst die Unterstützung von wirtschaftsnahen Stiftungen und Konzernen benötigt, wird sie von inhumanen Verhältnissen zehren. Im Kultursponsoring beruhigen manche Unternehmen vielleicht ihr schlechtes Gewissen. Man sollte ihnen diese zeitgemäße Form der Absolution nicht allzu schwer machen. Eine gewisse moralische Generosität ist der Preis, den wir für das Außergewöhnliche zahlen. Er ist nicht zu hoch.