Wehret den Anfängen! Kaum eine Floskel wird - und dies nicht nur im Zusammenhang mit dem Gedenken an das Ende des Zweiten Weltkriegs - so gerne gebraucht wie diese. Um zu verhindern, dass sich Schlimmes wiederholt oder Verhängnisvolles unbemerkt zu wuchern beginnt, ist höchste Wachsamkeit geboten. Beim ersten Anzeichen, dass die Dinge in eine problematische Richtung laufen, muss eingegriffen werden. Dieses Mantra klingt gut und hat lediglich den Nachteil, von der Wirklichkeit stets aufs Neue widerlegt zu werden.

Der Autor ist ein österreichischer Philosoph, Essayist und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für "Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik" an der Universität Wien. - © Heribert Corn
Der Autor ist ein österreichischer Philosoph, Essayist und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für "Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik" an der Universität Wien. - © Heribert Corn

Während in Nordamerika und Europa mit Argusaugen darauf geachtet wurde, dass überall die Standards der politischen Korrektheit eingehalten werden, um Rassismus, Sexismus und Kolonialismus keine Chance mehr zu geben, konnte der Kreml relativ ungestört seinen Überfall auf die Ukraine vorbereiten. In dieser Form hatte das niemand kommen sehen, diesen Griff zu militärischer Gewalt gegen einen Nachbarstaat mitten in Europa hatte man dem Potentaten in Moskau letztlich doch nicht zugetraut. Jetzt wird der Westen, der sich zuvor in einer beispiellosen Selbstgeißelung für alle Übel dieser Welt verantwortlich gemacht hatte, plötzlich zum selbstbewussten, starken und stolzen Garanten für Freiheit und Demokratie. Auch das hat manche überrascht.

Man hätte, so werden wir nun belehrt, die Zeichen der Zeit durchaus erkennen können. Die nachträgliche Klugheit hat es leicht: Sie weiß schon, was geworden ist. Die vorausschauende Klugheit hat es schwer: Sie weiß nicht, was geschehen wird. Im Getriebe der Gegenwart ist kaum auszumachen, was wirklich zukunftsträchtig ist. Mit der Pandemie, so lasen wir vor zwei Jahren, beginnt eine neue Epoche der modernen Zivilisation. Welch ein Irrtum! Der Philosoph G. W. F. Hegel hat darauf aufmerksam gemacht, dass wir erst dann wissen, wann etwas begonnen hat, wenn dieses zu einem Ende gekommen ist. Umgekehrt rätseln wir oft genug, wann das, was wir mit Entsetzen beobachten müssen, eigentlich angefangen hatte. Begann das deutsche Verhängnis erst mit Hitler, oder bereits mit Bismarcks Kolonialpolitik oder Martin Luthers Antisemitismus?

Zeitgenossen können selten beurteilen, auf was sie sich langfristig einlassen. Wir sollten, so konnte man dieser Tage aus Expertenmund hören, im Sinne der Energiewende keine Scheu vor einer Koppelung unserer grünen Ambitionen an das Know-how und die Ressourcen Chinas haben. China? Eine kommunistische Diktatur? Wie war das doch gleich mit den Anfängen?

Da das Handeln von Menschen keiner naturgesetzlichen Determination unterliegt, lässt sich schwer abschätzen, welche unserer Entscheidungen im Nachhinein einmal als Anfang einer positiven oder negativen Entwicklung gesehen werden. Den Kampf der Ukraine mit allen Mitteln zu unterstützen - ist dies der Auftakt zu einer neuen, stabileren Sicherheitsarchitektur in Europa oder der Keim für einen atomar geführten Dritten Weltkrieg? Wer wüsste es zu sagen? Und was bedeutete es in diesem Zusammenhang, den Anfängen wehren zu wollen?

Machen wir uns nichts vor: Wir haben keine Ahnung. Wir können bestenfalls das tun, was wir im Moment für richtig halten und hoffen, dass wir dabei weder ideologisch verblendet noch gutgläubig oder befangen sind. Ob wir durch unsere Taten eine verhängnisvolle Eskalationsspirale der Gewalt gerade noch rechtzeitig gestoppt haben oder sehenden Auges in eine Katastrophe geschlittert sind, werden wir erst im Nachhinein erfahren. Wir sollten deshalb aufhören so zu tun, als hätte man immer alles voraussehen können. Wehret den Anfängen: Diese Aufforderung übersteigt schlicht unsere Möglichkeiten, da wir den Ausgang der Geschichte nicht kennen. Wir sollten diesen Imperativ aus unserem politischen Vokabular streichen.