Irene Prugger, geboren 1959, Schriftstellerin und freie Journalistin, lebt in Mieming, Tirol.

Irene Prugger, geboren 1959, Schriftstellerin und freie Journalistin, lebt in Mieming, Tirol.

Die Bücherregale in der Wohnung quellen über und die Menschen dazwischen sollten ja auch noch Platz haben. Deshalb sortiere ich zu Beginn des neuen Jahres die im vorigen Jahr ins Haus gekommenen Bücher aus. Nur die Besten und Liebgewonnene dürfen bleiben - zwei Kategorien, die sich nicht unbedingt decken. So einfach ist es eben nicht, die Lektüre nach "Schatz oder Schund" einzuteilen.

Um die Entscheidung hinauszuzögern, surfe ich im Internet und lese in einem Blog über die Beziehung, die man zu Büchern aufbaut, über Höhen und Tiefen, die man mit dem "Partner" Buch erleben darf, wie man sich in Büchern wiederfindet, wie sie Trost und Freude spenden oder überraschende Einsichten vermitteln, dass ich aber trotzdem das "Loslassen" üben soll, indem ich die Bücher "aus meinem Leben gehen" lasse.

So weit ist es zum Glück noch nicht, dass ich jedes wegzugebende Buch als zu betrauernden Todesfall sehe, deshalb ordne ich mit der geforderten Kaltblütigkeit drei Stapel: Jene Bücher, von denen ich mich leicht trenne; jene, bei denen ich zweifle; jene, die über jeden Zweifel erhaben sind und bleiben.

Zur illustren Gruppe der ohne Zögern Auserwählten gehört diesmal "Fabelhafte Wesen" von Alberto Manguel, auf Deutsch erschienen 2022 in bibliophiler Gestaltung mit Zeichnungen des Autors im Diogenes-Verlag. Der Kanadier, der in Buenos Aires geboren wurde und in Israel und Argentinien aufwuchs, ist auch bei der Auswahl seiner Lektüre vielseitiger Kosmopolit, wie er bereits mit seinen vorigen Büchern und dem Bestseller "Eine Geschichte des Lesens" bewies (ein Buch, das ebenfalls schnell und unbürokratisch die Aufenthaltsbewilligung in meiner Bibliothek bekam).

Für den Diplomatensohn, der mit seiner Familie oft auf Reisen war, sind Bücher eine Art Heimat und literarische Figuren Begleiter, an denen er stets neue Facetten entdeckt. Besonders ans Herz gewachsen sind dem Literaturdozenten Manguel: der Graf von Monte Christo, Jane Eyre, der kluge Monsieur Teste von Valéry, Chestertons Donnerstag, Achill und Dante. Selbst Rotkäppchen mit seiner vordergründig sexuellen Konnotation kann er neue Aspekte abgewinnen, indem er "zivilen Ungehorsam" ins Spiel bringt und das Mädchen aufgrund seiner Vorliebe für Umwege mit Holden Caulfield aus "Der Fänger im Roggen" vergleicht. Rotkäppchen ist eines von vielen "fabelhaften Wesen", auf die er im Buch näher eingeht. Zudem vorgestellt werden u.a. Monsieur Bovary, Alice im Wunderland, Faust, Don Juan, Kapitän Nemo, Frankensteins Monster, Heidis Großvater, Robinson Crusoe, Superman, Sindbad, Dornröschen ...

In unterhaltsamen Verknüpfungen erfährt man Kluges über ihre Wandlungen und ihre oft verblüffenden Verwandtschaftsverhältnisse zu anderen Figuren. Das Dumme ist nur: Das Buch strotzt nur so vor Hinweisen auf weitere lesenswerte Bücher, die sich im nächsten Jahr gegen ihre Aussortierung sträuben werden.