
Matthias G. Bernold, geboren 1975, lebt als Journalist in Wien.
Die Bahnstrecke verläuft zwischen Karton-Stapeln, halb aufgebauten oder noch eingepackten Ikea-Möbeln, eingerollten Teppichen, Koffern und Müllsäcken. In komplizierten Windungen führen die Gleise von der Küche durch Karton-Tunnel um ein Erdäpfelsack-Gebirge bis unter das Hochbett. Es ist die längste Brio-Strecke aller Zeiten. Und mein Sohn ist zu Recht stolz. Ich befinde mich im Hochbett in einer halb liegenden, halb sitzenden Position. Es ist in der neuen Wohnung der einzige Platz, an dem ich schreiben kann, weil er, derzeit, nicht verstellt oder belegt ist.
Wir sind vor zwei Tagen umgezogen. Und die Welt, wie ich sie kannte, gibt es nicht mehr. An ihre Stelle ist Chaos getreten. Die kleine Ordnung, über viele Jahre erarbeitet und ausgehandelt, blieb anderswo zurück. Die Küchenmesser kann ich ebenso wenig finden wie meine Schlapfen. Um jeden Winkel des neuen Raumes brechen Revierkämpfe aus. Auf welchen Stapel Umzugskartons lege ich meine Geldbörse, wohin du deine?
Tätigkeiten dauern länger als gewöhnlich: Warum sind die Nudeln noch nicht fertig, Papa? (Antwort: Weil es kein Gasherd ist, sondern ein lahmer E-Herd.) Und der Streit ums Abwaschen - immer schon ein heikles Thema - wird zur existenziellen Frage: "Wenn du jetzt nicht abwäschst, kommen wir niemals wieder zur Küchenzeile hin ..."
In diesen herausfordernden Zeiten ist es gut, auch einmal eine tröstliche Nachricht zu erhalten. Und die tröstlichste für mich war sicher die öffentliche Resignation von Marie Kondo. Ordnung sei nicht alles, erklärte die Aufräumberaterin und Buchautorin unlängst in einem Interview mit der "Washington Post". Jetzt, mit dem dritten Kind im Haushalt, sei sie zur Gewissheit gelangt: Ordnung sei ein Konzept, an dem man nur scheitern könne. Es gäbe Zeiten, da sei es wichtiger, loszulassen und einfach nur die Momente mit der Familie zu genießen.
Zur Erinnerung: Marie Kondo ist jene Frau, die mit ihren Ratschlägen zum Thema Ordnen und Entrümpeln vor zehn Jahren einen Trend begründete, die eine eigene Netflix-Serie hatte und die uns erklärte, wie wir Liebe, Job und Alltag bewältigen, indem wir überflüssiges Zeug wegschmeißen und Unterhosen nach Farben sortieren. Ach, wie ich mich dieser Tage nach farblich geordneten Unterhosen sehne. Oder überhaupt nach Unterhosen ... Ich vermute, dass sie sich in einer der Kisten zwischen der Couch und dem auf der Seite liegenden Sekretär befinden.
Vielleicht geht es tatsächlich darum, diesen Zwischenzustand zu akzeptieren und das Chaos anzunehmen. Gerade kommt der Güterzug mit einer Ladung Weihnachtskekse. "Hier sind Kekse, Papa, spielen wir?" Jawohl, wir spielen. Die Kartons laufen uns nicht davon.