Man stelle sich vor, auf einer Querdenker-Plattform erschiene die Meldung, dass ein mit Geheimdiensten kooperierender israelischer Unternehmer unter dem Decknamen "Team Jorge" gegen Bezahlung weltweit Fake News verbreite, Wahlen manipuliere, Accounts und Profile fälsche, E-Mail-Korrespondenzen hacke und politische Schmutzkübelkampagnen lanciere - der Vorwurf einer antisemitisch getönten Verschwörungstheorie ließe nicht lange auf sich warten. Tatsächlich handelt es sich aber um das Ergebnis der Recherchen eines internationalen Konsortiums von angesehenen Medien, das in den letzten Tagen für einige Aufregung sorgte. Das Internet bietet eine Fülle von Möglichkeiten gezielter Desinformation und Beeinflussung, an denen vor allem autoritäre Machthaber sowie rechte und konservative Kreise ein Interesse haben sollen. Pikanterweise gehört zu dieser Mediengruppe, die solche Machenschaften aufklären will, auch das deutsche Nachrichtenmagazin "Der Spiegel,", das in letzter Zeit selbst durch einen fragwürdigen Umgang mit der Wahrheit aufgefallen ist. Ob die Fälschung der Wirklichkeit im Dienste politischer oder ökonomischer Interessen ideologisch stets eindeutig zuordenbar ist, lässt sich wohl grundsätzlich bezweifeln.

Die "Neue Zürcher Zeitung"publizierte in derselben Nummer, in der über die üblen Geschäftspraktiken von "Jorge" berichtet wird, einen Essay des niederländischen Schriftstellers Leon de Winter, in dem dieser darlegt, dass die von linksliberalen Medien gerne verbreitete These, dass hinter Trumps Wahlerfolg von 2016 der Kreml stecke, eine "bösartige Inszenierung" war, für die sogar Beweismittel gefälscht wurden. Man muss de Winters Schlussfolgerung, dass diese Unterstellungen zu einer nachhaltigen und verständlichen Verärgerung Putins geführt hatten, nicht teilen, aber es bleibt ein bitterer Beigeschmack: Wenn es darauf ankommt, nutzen offenbar alle ganz gerne das unsaubere Potenzial der Digitalisierung. Verdächtigt aber wird wie üblich nur der andere.
Möglich, dass wir im Gegensatz zu manch vollmundigen Versprechungen nicht in einer Informations-, sondern in einer Desinformationsgesellschaft leben. Nicht der Umgang mit Informationen und Wissen wäre dann das entscheidende Merkmal unserer Kommunikationsverhältnisse, sondern die Frage, wie überhaupt noch sinnvoll zwischen wirklichkeitsgetreuen und verzerrten oder gar erfundenen Nachrichten unterschieden werden kann. Dass viele Aktivitäten im Netz von Bots und gefakten Accounts gesetzt werden, macht den einst nur Spezialisten bekannten Turing-Test, der darüber befinden soll, ob mein Gegenüber ein Mensch oder eine Maschine ist, zu einer alltäglichen Herausforderung, an der wir wahrscheinlich öfter scheitern, als uns lieb sein kann.
Das alles ist schlimm, keine Frage. Doch die Wahrheit lag noch nie auf der Straße, und gefälscht wurde schon immer. Es mag sein, dass es im digitalen Zeitalter schwerer wird, die Qualität von Informationen zu erkennen. Selbst der gut gemeinte Ratschlag, die Vertrauenswürdigkeit von Quellen ständig zu überprüfen, geht ins Leere, wenn dafür die Maßstäbe schwinden.
Aber wie wirksam sind solche Manipulationsversuche eigentlich? Man sollte die Menschen nicht unterschätzen. Es wird nicht alles geglaubt, was man uns glauben machen will. Dazu kommt, dass wir an unseren Vorurteilen, denen manchmal ja reale Erfahrungen entsprechen, ziemlich hartnäckig festhalten. Ausgerechnet die viel kritisierte Trägheit gegenüber dem digitalen Fortschritt macht uns widerstandsfähig gegen die Angriffe der Desinformationsindustrie. In der modernen Welt wird so aus dem Laster der Ignoranz eine veritable Tugend.