Neunzig prominente Personen wünschen sich eine Debatte über die österreichische Sicherheitspolitik. Darauf und auf die Rolle der Neutralität angesprochen, sagt die Europa- und Verfassungsministerin Edtstadler in der ZiB 2 aber, für sie stehe die Neutralität fest, denn die wäre "identitätstiftend". Auf Nachfrage von Armin Wolf erklärt sie, "die Generationen vor uns" hätten schließlich die "Neutralität erkämpft."

Da darf man sich wundern. War doch der Krieg, in dem diese Generation von Österreicher gekämpft hatten, einer, der von einem bärtigen Auslandsösterreicher um 5:45 Uhr vom Zaun gebrochen wurde. Und der hatte ein Weltbild, das vor allem den Menschenrechten gegenüber extrem neutral war. Österreich als Staat selbst war dafür den ganzen Krieg lang derart neutral, dass es auf der Landkarte nicht zu finden war. Doch Edtstadler bleibt hart. Selbst auf das Zitat des ehemaligen ÖVP-Bundeskanzlers Wolfgang Schüssel "Die alten Schablonen - Lipizzaner, Mozartkugeln oder Neutralität - greifen in der komplexen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht mehr" antwortet sie mit den schönsten Stehsätzen, seit es Message-Control gibt: Die Neutralität sei Teil unserer Geschichte und wichtig für die Identität. Womit sie das Kunststück vollbringt, Schüssel recht zu geben, aber gleichzeitig stur zu bleiben. Dabei irrt Schüssel, wenn er die Neutralität mit den Lipizzanern und Mozartkugeln vergleicht. Denn die Neutralität ist viel mehr wie eine Fronleichnamsprozession, der Radetzkymarsch oder das Skifahren.
Sind die Fronleichnamsprozessionen doch direkte Folgen der jesuitischen Rekatholisierung im Zuge der Gegenreformation des frühen 17. Jahrhunderts. In dieser guten alten Zeit, wo tausende protestantische Bauern und Landadelige in Oberösterreich, der Steiermark oder Kärnten wegen ihres Glaubens umgebracht oder vertrieben wurden. Und der Radetzky, der alte Haudegen, hat ja auch nur seinen hübschen Marsch bekommen, weil er den Aufstand in Oberitalien vor 175 Jahren blutig niedergeschlagen hat. Ja, und selbst der vielgeliebte Skitourismus konnte sich erst aufgrund der im Ersten Weltkrieg in die Berge gebauten Eisenbahnlinien so richtig etablieren. Es ist vielleicht ein österreichisches Muster: erst Gewalt, dann Gemütlichkeit. So auch bei der Neutralität. Zuerst "Anschluss" genannter Einmarsch, dann Nazi-Diktatur, Zweiter Weltkrieg, Besatzungszeit und endlich: gemütliche Neutralität. Ja, unsere geliebte Neutralität, die die Sowjetunion zur Bedingung gemacht hatte, damit Österreich seine staatliche Souveränität wieder erlangen durfte. So geht man mit den Wünschen aus dem Kreml um. Und jetzt sollen wir diese geliebte Neutralität überdenken?
Wegen der Ukraine? Bitte, die war ja mal ein Teil von Galizien, als Galizien ein Teil von Österreich war. Aber da hießen die noch Ruthenen. Wegen denen? Dabei war doch unser Großonkel selbst schon dort. Im 42er Jahr, zu Fuß, im Auftrag von dem Auslandsösterreicher. Leider ist er nicht mehr wiedergekommen, der Großonkel. Und wegen denen sollen wir jetzt was ändern? Weil die jetzt unbedingt einen eigenen Staat haben müssen? Muss das sein? Sollen sich doch einfach besetzen lassen, wie . . . äh . . . an irgendwas erinnert uns das doch. Egal, neutral bleiben. Auch der eigenen Geschichte gegenüber.