Es hat einige Jahrzehnte gedauert, aber jetzt ist es passiert. In der neuesten Ausgabe der Duden-Grammatik wird das Tempus-System, mit dem wir in Österreich und im Süden des Sprachraums leben, anerkannt. Die eben erschienene Neuausgabe ist ein wissenschaftliches Werk mit fast tausend Seiten Umfang und es kostet mehr als vierzig Euro - was im Grunde genommen wohlfeil ist.

"Komplett neu verfasst, neuer Aufbau, neue Themen", steht am Cover. Ich habe ein Thema ausgewählt, das mir seit langem ein Anliegen ist, möchte aber zunächst ein Faktum vorausschicken. Im Norden wird im Präteritum erzählt: "Gestern ging ich ins Kino und sah einen großartigen Film", im Süden im Perfekt: "Gestern bin ich ins Kino gegangen und habe einen großartigen Film gesehen." Nur in den Zeitungen und in den Romanen ist auch bei uns das Präteritum gängig.
Wer die Sprache beobachtet, wird bemerkt haben, dass das Perfekt im Kommen ist, es verdrängt das Präteritum und breitet sich Richtung Norden aus. Das Perfekt klingt sympathischer als das Präteritum. Mit der Terminologie von Humboldt und Schlegel sagen wir: Die analytischen Tempora (ich bin hinuntergesprungen, ich habe mich verletzt) verdrängen die synthetischen Tempora (ich sprang hinunter, ich verletzte mich); auch in anderen Sprachen ist das so.
Wer im Perfekt erzählt, braucht ein Tempus für die Vorzeitigkeit, dafür haben wir seit alters her das doppelte Perfekt: "Ich habe es vergessen gehabt (doppeltes Perfekt), aber dann ist es mir wieder eingefallen (Perfekt)." In meinem Buch "Wenn ist nicht würdelos" brachte ich Beispiele von Goethe, Thomas Mann und Heinrich Böll. Auch an dieser Stelle habe ich schon einmal eine Lanze für das doppelte Perfekt gebrochen, ein deutscher Verlag hat den Beitrag sogar in einem Lehrbehelf nachgedruckt.
Wie ist die Duden-Grammatik in den letzten Jahrzehnten mit diesem Tempus-Phänomen umgegangen? In den Ausgaben 1984 und 1998 wird das Perfekt als Erzählform diskreditiert und dadurch ist kein Platz für das doppelte Perfekt: "Da das Perfekt in der Standardsprache nicht als Erzähltempus dient, darf es auch nicht reihend in längeren Texten gebraucht werden, dafür steht das Präteritum zur Verfügung."
In der Ausgabe 2005 gibt es wenigstens die Überschrift "doppelte Perfektbildungen" und eine merkwürdige Belegstelle: "Hier hast du deine Hundemarke wieder. Ich habe sie ganz vergessen gehabt."
In der neuesten Ausgabe erhält das doppelte Perfekt erstmals eine Überschrift, und es heißt: "In Gegenden bzw. Registern, in denen alle Präteritumformen vermieden werden, füllt das doppelte Perfekt somit eine funktionale Lücke." Wir finden sogar den Hinweis, dass das doppelte Perfekt in der Umgangssprache auch statt des einfachen Perfekts und des Präteritums verwendet wird: "Wir haben einen Tisch reserviert gehabt." (Statt: haben reserviert.)
"Mein Sohn hat diese Frau wirklich verehrt gehabt." (Statt verehrt.) Und sogar das doppelte Plusquamperfekt bekommt einige Zeilen geschenkt, mit einem langwierigen Goethe-Zitat. Ich erkläre es einfach so: "Wir hatten bereits gegessen gehabt, als er eintrat."