Das Schöne am Älterwerden ist, dass manch ein Ereignis, das sich einst als großer Fehler darstellte, in der Rückschau nicht mehr ist als ein lächerlicher Lapsus, der einst von dem eigenen Hang zum Drama zu einem riesigen Heißluftballon aufgeblasen wurde. Man lächelt heute gnädig über sich selbst.

Auch die unglücklichen Lieben von damals, die gescheiterten Liebschaften, können sich als in der Retrospektive als glückliche Fügungen erweisen, trifft man sie zufällig im Supermarkt wieder. Da steht man und führt plötzlich ein Gespräch mit einem Menschen, den man einst als den begehrenswertesten des Universums erachtet hat, lächelt freundlich, zeigt sich interessiert und denkt sich insgeheim: "Um ein Haar würde ich jetzt mit dieser Person einen Bauernhof in der Oststeiermark bewohnen."
Bevor jetzt die Band im Hintergrund allerdings den Klassiker "Die Zeit heilt alle Wunden" anstimmt und meine Altersklasse die Feuerzeuge rausholt, sei rasch ergänzt: Das geht aber auch umgekehrt.
Kleine Meinungsverschiedenheiten von vor dreißig Jahren, Entscheidungen aus Launen und Bauchgefühl heraus, sorgsam argumentierte und ideologisch-untermauerte Faulheit und Vermeidungsstrategien erweisen sich in der Rückschau als gigantische Fehlentscheidungen.
Denn plötzlich trifft man diesen Typen wieder. Im edlen Zwirn tänzelt er aus dem angesagten Restaurant und sagt: "Ja servus!"
Man erwidert den Gruß, ohne zu wissen, wer das eigentlich gerade da ist.
Doch im Laufe des Gesprächs dämmert es einem. Ja, da gab es doch diesen Typen . . . diesen Jakob? Conrad? Moritz? Jojo? Wir waren jung. Und nie in der Schule. Und ständig in diesem Park. Und immer hatte jemand was zu kiffen dabei. Und das war . . . er?
Aber eines Tages hat er gesagt, er höre jetzt damit auf. Er mache jetzt was mit Computern.
Und was haben wir getan? Wir haben gelacht. Computer?! Programieren? So ein Idiot! Gab es etwas Langweiligeres? Den ganzen Tag vor dem Bildschirm? Und wir haben die ganzen neunziger Jahre noch gelacht. Und in den Nuller-Jahren haben wir gelacht über die Sitcom "IT-Crowd". In den 10er Jahren haben wir uns gewundert, wer eigentlich diese Rechenmodelle aufgestellt hat, die die Finanzkrise ausgelöst haben, und warum diese beschissene App einerseits nicht funktioniert und andererseits trotzdem so viel über uns weiß.
Und heute lachen wir nicht mehr. Heute fragen wir uns, warum der Algorithmus all diese Entscheidungen trifft. Denn er sagt, was Du in den sozialen Netzwerken siehst - oder nicht. Und bestimmt, ob Du diesen Kredit bekommst - oder nicht. Und er ist auch die Basis für Gesichtserkennungssoftware und Deep Learning, die beide demnächst entscheiden, ob Du durch diese Tür gehen darfst - oder eben nicht. In den chinesischen Uiguren-Provinzen entscheiden Algorithmen bereits, ob Du im "Umerziehungslager" genannten High-Tech-Gulag landest - oder nicht.
Und wer hat diese Algorithmen programmiert? Diese Programmierer. Diese nerdigen IT-ler, die nie etwas mit dem echten Leben zu tun hatten - und schon gar nicht mit dem anderen Geschlecht. Die. Und die beherrschen jetzt die Welt. Und gehen in angesagte Restaurants. Und Du hast damals gelacht? Wer ist denn eigentlich der Idiot?
Naja, immerhin wohnst Du nicht in der Oststeiermark.