
Andreas Wirthensohn, geboren 1967, lebt als freier Lektor, Übersetzer und Literaturkritiker in München.
Eigentlich sind mir Oper und Operette (ähnlich wie Kollegen Schmickl, der das in einer Glosse kürzlich näher ausgeführt hat) ein Graus. Der Gesang lässt mir nach spätestens zehn Minuten sämtliche Haare zu Berge stehen, die Handlungen empfinde ich zumeist als reichlich albern, und dass die Darsteller in erster Linie Sänger und keine Schauspieler sind, merkt man recht schnell.
Insofern ist es umso seltsamer, dass ich des Öfteren an Carl Zellers Operette "Der Vogelhändler" denken muss (1891 in Wien uraufgeführt). Denn daraus sind mir eigenartigerweise - auf welchen Wegen auch immer, ich habe das gute Stück nie gesehen - zwei Nummern ins Unterbewusstsein gerutscht und dort jetzt fester Teil meiner musikalischen bzw. textlichen DNA: "Schenkt man sich Rosen in Tirol" und "Ich bin die Christel von der Post".
Dieser Tage kam mir die "Christel" wieder in den Sinn, denn der Text erwies sich gleich in mehrfacher Hinsicht als zeitlos aktuell. Die Post streikt nämlich mal wieder, die Gewerkschaft will ordentlich mehr Gehalt, und der Konzern beglückt zwar gern seine Aktionäre mit üppigen Dividenden, ist ansonsten aber von der eher geizigen Sorte. "Klein das Salär und schmal die Kost", singt die Christel, die das aber - anders als ihre heutigen Kolleginnen - klaglos erträgt, sie ist ja noch jung, lustig und frei.
Naja, die Zeiten ändern sich bekanntlich, und ich muss gestehen, dass ich mich inzwischen freue, wenn überhaupt Post kommt. Denn ich habe den Eindruck, dass die "Christel" manchmal gar nicht aufs Rad steigt, um Briefe auszutragen, dass an zwei, drei Tagen geballt Post anlandet und ansonsten der Briefkasten beklemmend leer bleibt. Und ein Tag ohne Post ist kein schöner Tag. Ich habe früher selbst (als Ferienjob) Briefträger gespielt und weiß, wie sehnsüchtig mich manche Menschen erwartet haben und wie traurig sie waren, wenn ich nichts für sie dabei hatte. "Morgen kommt bestimmt etwas", habe ich dann immer gesagt und inständig gehofft, tags darauf nicht als Lügner dazustehen.
Post zu bekommen ist Leben, ist Zeichen der Verbundenheit mit der Welt. Neulich kam eine Postkarte aus Italien: abgeschickt Mitte Juni 2022 ... Das Paar, das sie geschrieben hatte, war inzwischen gar kein Paar mehr, was diese Karte zu einer Art Flaschenpost aus ferner Vergangenheit machte. Ihr Eintreffen löste eine ganze Kaskade von Erinnerungen aus, schöne, wehmütige (bittersüß könnte man sagen), und das alles begleitet von der bohrenden Frage, wo dieses kleine Stück Papier denn all die Monate verbracht hatte: in einem ungeleerten Briefkasten, in der Ecke eines Postamts, am Grunde eines Postsacks?
Wir werden es nie erfahren. Aber wie sang schon die Christel: "Denn bei der Post gehts nicht so schnell!" Wie wahr!