Vor kurzem wurde das epochale, lange vergriffene Werk "Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang" des deutsch-griechischen Philosophen und Ideenhistorikers Panajotis Kondylis wieder aufgelegt. Der brillante, 1998 verstorbene Privatgelehrte hatte darin den Konservativismus als eine politische Strömung charakterisiert, die eng an die Vorstellung einer religiös verbürgten ständischen Gesellschaftsordnung, der Societas civilis, wie sie der christliche Adel vertreten hatte, gekoppelt war. Konservativ sein im strengen Sinne hieß einmal, die damit verbundenen Privilegien gegen die Ansprüche des absolutistischen Staates ebenso zu verteidigen wie gegen den aufkeimenden bürgerlichen Individualismus. In diesem Sinne ist der Konservativismus seit langem erledigt.

Der Autor ist ein österreichischer Philosoph, Essayist und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für "Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik" an der Universität Wien. - © Heribert Corn
Der Autor ist ein österreichischer Philosoph, Essayist und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für "Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik" an der Universität Wien. - © Heribert Corn

Heute taugt dieser altehrwürdige Begriff aus dem Arsenal der politischen Theorie gerade noch als Schimpfwort. Das starre Festhalten an leeren Traditionen, veralteten Technologien und binären Lebensformen wird damit abschätzig charakterisiert, aber auch provinzielle Enge, bildungsbürgerliche Attitüden und gepflegte Umgangsformen werden damit bedacht. Kein Wunder, dass der Konservativismus im politischen Spektrum weit rechts verortet wird. Dafür spricht einiges, aber die Relektüre von Kondylis’ Studie mahnt doch zu einer gewissen Vorsicht.

Manche Etiketten führen dann auch in die Irre. Die sich selbst als progressiv missverstehende Identitätspolitik unserer Tage ist in einem geradezu klassischen Sinn konservativ. Die Bedeutung von Hautfarbe und Herkunft wird über alle Zeiten festgeschrieben, die Nachfahren der ehemaligen Kolonialherren können sich ebenso wenig davon lösen wie die Enkelkinder der einst Unterdrückten. Hier wird eine unverrückbare soziale Ordnung behauptet, die nur noch Täter und Opfer kennt und keinem die Chance gibt, diesen Zuschreibungen zu entgehen.

Auch die aktuell als fortschrittlich annoncierte Idee eines Klimakommunismus reaktiviert eine pervertierte Variante der von Max Weber sogenannten bürokratischen Herrschaft. Die Vorstellung, die Dynamik einer Gesellschaft einer zentralen Planung zu unterwerfen und durch eine überbordende Verwaltung zu kontrollieren, ist eigentlich zutiefst konservativ. Sie erinnert an die versteinerten Verhältnisse, die noch jede Planwirtschaft hervorgebracht hat.

Löst man den Konservativismus aus solchen Zusammenhängen, bleibt nicht viel mehr übrig als die Überzeugung, dass es Dinge gibt, die es wert sind, bewahrt zu werden. Fraglich, ob diese Ansicht an sich verabscheuungswürdig ist. Wer etwa die repräsentative Demokratie, die Freiheit des Individuums, die Meisterwerke der Vergangenheit und die kulturellen Überlieferungen indigener Völker für erhaltenswert hält, ist in diesen Belangen zweifellos konservativ. Doch es muss darüber diskutiert werden, was, nach dem zynischen Wort Mephistos, wert ist, dass es zugrunde geht, und was, wenigstens eine Zeitlang, Bestand haben sollte.

Goethes Teufelchen fand ja alles null und nichtig: Drum besser wär’s, dass nichts entstünde. So wollen wir aber nicht denken, im Gegenteil. Wir sind froh, dass es etwas gibt. Und das soll auch bleiben. Traut man dem jüngsten Bericht des Weltklimarates, geht es schon längst nicht mehr darum, eine Welt zu gewinnen - wie Klimaaktivisten mit Verweis auf Marx suggerieren -, sondern wir stehen vor der schwierigen Aufgabe, eine halbwegs lebenswerte Welt zu bewahren. Wer die Erde nicht der atomaren Vernichtung oder dem Hitzekollaps preisgeben will, vertritt nach einer Formulierung von Günther Anders notgedrungen einen "ontologischen Konservativismus". Zumindest auf diese Spielart konservativen Denkens werden wir bis auf weiteres nicht verzichten können.