Es gibt einen speziellen Moment der Erkenntnis. Fast immer. Dieser Moment kann denkwürdig sein, fast schockartig schmerzlich, bisweilen radikal richtungsändernd. Oder auch nur einen "Aha"-Effekt auslösen. Bei mir war es seltsamerweise ein Foto, das diesen speziellen Moment triggerte. Präziser: ein fotoähnliches Bild, das Teenager in südlichen Gefilden und sommerlichem Outfit vor einem VW Käfer zeigte. Auf den ersten Blick ein Urlaubs-Schnappschuss, wie er in Millionen Fotoalben der Boomer-Generation klebt. Sowohl die Farben - leicht verwaschen wie bei Kodak- oder Agfa-Filmen der 1970er Jahre - als auch das gesamte Szenario wirkten authentisch. So hat man die eigene Jugend in Erinnerung.

Und doch war das Bild eine Illusion. Eine Fälschung. So überzeugend der Gesamteindruck war, offenbarten sich bei näherem Hinsehen Detailfehler. Der VW Käfer besaß vorne Blinker, die es im Original so nie gab. Ein Auto im Hintergrund hatte sechs Räder. Und wieder einmal waren die Finger der gezeigten Personen irgendwie seltsam verwurschtelt. Das Bild zeigte Erinnerungen an nie existente Zeiten, Orte und Menschen. Erinnerungen an die Zukunft. An eine Zukunft, in der wir wohl mit solchen Kreationen sonder Zahl konfrontiert werden: Schöpfungen künstlicher Intelligenzen.
Andere mögen ähnliche Momente der Erkenntnis gehabt, als ihnen der Papst in einem glänzenden weißen Daunenparka untergejubelt wurde. Oder Ex-US-Präsident Trump bei seiner Verhaftung (reine Fiktion, leider). Mittlerweile gewinnen KI-Bilder auch Fotowettbewerbe. "Erstaunlich, was alles geht", kommentierte der Publizist Thomas M. Eppinger auf Twitter. "Dazu kommen Deep Fake-Videos, in denen man jedem beliebige Worte in den Mund legen kann. Wir werden künftig gut damit beschäftigt sein, die Wirklichkeit von den Bildern vorgeblicher Wirklichkeit zu unterscheiden." Volker Plass, einer der klügsten Köpfe der heimischen Grünen: "Ihr wisst schon, was da auf uns zukommt. Wie wird das den politischen Diskurs verändern?" Und Philipp Wilhelmer vom "Kurier", spitzte diese Erkenntnis noch zu: "Das Zeitalter der Wahrheit ist vorbei. Ein für alle Mal."
Das mag weit überzogen, ja annähernd pathetisch klingen, trifft aber einen Punkt. KI-Programme wie Midjourney (das vorzugsweise für Fotobasteleien verwendet wird), Dall-E oder Stable Diffusion werfen alternative Realitäten bereits wie am Fließband aus, die Anweisungen ("Prompts") kommen von experimentierfreudigen Usern aus Fleisch und Blut. Und demnächst wohl aus unzähligen Fake-Hinterzimmern und Troll-Fabriken. Vielleicht ist das Spielerische der Trick, uns an das neue Zeitalter der Uneindeutigkeit zu gewöhnen. "Selbst gewichtigen Vertretern der Tech-Branche wie Elon Musk wird der KI-Hype zunehmend suspekt", lese ich gerade auf ORF ON. "Darauf verweist zumindest ein Brief, in dem aktuell eine KI-Entwicklungspause gefordert wird." Wenn nicht einmal mehr die menschlichen Schöpfer die Welt der exponentiell explodierenden Maschinen(pseudo)intelligenz "verstehen, vorhersagen oder zuverlässig kontrollieren können" (so Musk & Co.), wird es raschest Zeit, eine Nachdenkpause einzulegen. Zumindest, um die nächsten Momente der Erkenntnis nicht unwiderruflich zu machen.