Auch schon wieder fünfundvierzig Jahre her, dass Kraftwerk das Album "Die Mensch-Maschine" veröffentlicht hat. Anno 1978 war das ein radikales Statement; die deutschen Elektro-Pop-Pioniere sangen von Entfremdung, Retro-Futurismus, Roboterwesen und technischen Utopien. "Wir sind die Kinder von Wernher von Braun und Fritz Lang", erläuterte Kraftwerk-Mastermind Ralf Hütter. Alle Ahnungen von damals - persönliche Computer steckten noch in den Kinderschuhen - haben sich bewahrheitet.

Leider hat man von Kraftwerk - außer bei Live-Tourneen und Remix-Fingerübungen - in den letzten Jahren wenig gehört. Wäre Hütter, das letzte verbliebene Original-Bandmitglied, am Geschehen der Gegenwart interessiert, gäbe es keinen passenderen Zeitpunkt, um die "Mensch-Maschine" fortzuschreiben. 2023 ist das Jahr, in dem der Einsatz künstlicher Intelligenz in der Kunst und insbesondere auch in der Musik die Aufmerksamkeitsschwelle breit durchbrochen hat. Kraftwerk trifft auf KI: Das hätte Megatonnen an Symbol- und Sprengkraft.
Das Spannungsfeld ist schon weitgehend abgesteckt. Gerade hat etwa Google seinen Text-erzeugt-Musik-Generator MusicLM vorgestellt, im Netz kann man sich einen persönlichen Eindruck von seinen Fähigkeiten machen. In Spotify und stellenweise auch in den Charts tauchen erste Produktionen auf, die aus dem Einsatz von KI kein Hehl machen (oder tolldreist kompositorische Handschriften und Stimmen fälschen). Die Avantgarde-Musikerin Grimes nennt einen Song, der ihre künstlerische Kontur geklont hat, ein "Meisterwerk" und gibt gegen 50 Prozent Copyright-Anteil sich selbst zur weiteren Verwurstung frei. Und vor wenigen Tagen hat der weltgrößte Musikkonzern Universal ein Berliner Start-up aufgekauft, das "funktionelle Musik" - sprich: Berieselungsklänge für Sport, Meditation und Entspannung - mit Hilfe von Algorithmen generieren will.
Für Insider wenig überraschend, dass Majors gestern noch, als die rasante Entwicklung noch nicht ganz in den Chefetagen angekommen war, Authentizität, Kreativität und menschliche Originalität beschworen (und Spotify frei von KI-Produkten wissen wollten), heute aber schon die Grenzen lockerer ziehen. Was sollte sich am Grundmotiv der üblichen Verdächtigen ändern, dass zuerst der Profit zählt, dann erst die Moral? Nach einer Schrecksekunde bricht nun wie das Amen im Gebet der Krieg um Gesetzesrahmen, Copyrights und Verwertungsrechte los. Für Experten sind "Wasserzeichen", die KI-Produkte identifizieren, eine unabdingbare Forderung. Daraus ließe sich, konsequent weitergedacht, ableiten, dass diese Maschinen-Kompositionen niemandem gehören. Und damit allen. Jede Wette, dass sich die Majors einiges einfallen lassen, um das dialektisch zu begrüßen und zugleich zu verhindern.
Was nicht gelingen wird (so sehr man auch Blut und Schweiß als Echtheitszertifikate menschlicher Kreativität beschwört): den KI-Geist zurück in die Flasche zu zwängen. All die Künstler, die das möchten kämpfen auf verlorenem Posten. Vielleicht erfreuen sich bald Publikums-Maschinen an Musik, die von Künstler-Maschinen gedacht und gemacht wurde. Freilich kann man es auch mit John Cale halten: "Ich verstehe nicht, warum die Leute Angst vor neuen Ideen haben", hielt er fest. "Ich habe Angst vor den alten."