Vor dem Holiday Inn in der Union Street ist Stau. Die Schlange der Autos geht 500 Meter weit, dann um die Ecke und zieht sich über fünfzehn weitere Blocks durch ganz Park Slope, ein Viertel in Brooklyn. So dringlich ist der Benzin-Durst an diesem Samstag, dass viele Autofahrer fünf, sechs, sieben Stunden in ihren Fahrzeugen verharren. Die Polizei achtet darauf, dass sich keiner vordrängt. Dort, wo dies doch passiert, reagieren die Menschen unwirsch: In den Tagen nach "Sandy" sind die Zeitungen voll mit Berichten über Prügeleien vor Tankstellen. Mitunter kommt es zum Waffengebrauch.

Angesichts dieses Szenerios stellen sich zwei Fragen. Wie kann es sein, dass im Herzen von New York - dem Sinnbild für Wohlstand und Luxus - die Versorgung mit Strom, Gas und Benzin fast eine Woche lang zusammenbricht? Und: Was bewegt so viele Leute, ihr Wochenende wartend im Auto zu verbringen?

Die Lektüre von David Eaglemans Buch "Incognito - The Secret Lives of the Brain" beantwortet die zweite Frage: Das menschliche Gehirn ist schuld. Und zwar dessen unterbewusster Teil. Wie der amerikanische Neurologe darlegt, ist nämlich das Bewusste, also das Vernünftige stets die allerletzte Instanz, die etwas entscheidet - sofern sie es überhaupt mitbekommt. "Unser Bewusstsein ist vergleichbar mit einem blinden Passagier an Bord eines Ozeandampfers, der glaubt, den Kurs des Schiffes zu bestimmen", schreibt Eagleman. Was uns wirklich steuert, seien interne Prozesse, Instinkte, Reflexe und Programme, die teilweise fix "eingebaut" sind, teilweise angelernt.

Ein Faktor, der Autofahren so attraktiv macht, ist der geringe körperliche Energieaufwand: Das Zurücklegen von Wegstrecken, sonst nur durch eigene Kraftanstrengung möglich, gelingt im Auto durch das Antippen eines Pedals. Irgendwo in den Synapsen mancher Autofahrer nistet bald die paradoxe Auffassung, dass Bewegung ursächlich mit Sitzen und dem Verbrennen von Öl zusammenhängt.

Die gute Nachricht: Das Hirn ist lernfähig und äußerst flexibel. So kann es nicht nur den Wegfall von Sinnesorganen kompensieren, sondern sich auch auf alternative Bewegungsmuster einstellen. Wie einfach das möglich ist, bewiesen jene vielen Brooklyniten, die frohgemut an den Autoschlangen vorbei radelten. Daneben blieb ihnen sogar noch die Zeit, einander durch diverse Engpässe nach dem Wirbelsturm zu helfen: Sie sammelten Geld und Sachspenden und machten sich in die besonders betroffenen Gebiete auf, um zu helfen. Was uns zur Beantwortung einer dritten Frage bringt: Wie es nämlich möglich sein kann, dass die USA trotz miserabler Infrastruktur und notorisch unterfinanzierter Verwaltung so gut funktionieren.

Matthias G. Bernold,geboren 1975, lebt als Journalist in Wien und New York.