Auf dem Plaza de Armas in Habana Vieja, dem ältesten Teil der kubanischen Hauptstadt, spielt einer Gitarre und singt. Nicht für das große Publikum, sondern für sich, seine Frau, seinen Sohn und die Schwägerin. Seine hohe, kraftvolle Stimme dringt weit in die Nacht hinaus. Seine Finger klopfen den Rhythmus auf den Instrumentencorpus. Irgendwann erhebt sich die Schwester von der Parkbank und beginnt zu tanzen. Der Sohn klatscht dazu. Alle lachen. Vielleicht sind sie ein bisschen beschwipst - warum auch nicht? Immerhin ist Heiliger Abend.
Es ist ein Augenblick der Echtheit in einer inszenierten Welt. Einer, der dem Besucher der Altstadt selten zuteil wird. Zu dicht stehen die Kulissen - wie überall, wo Orte zu Reisedestinationen, Bürger zu Dienstleistern und Reisende zu Touristen werden. Havanna im Umbau: vom Labor des Sozialismus zum Treibhaus der Fremdenverkehrsindustrie.
Anders als etwa in Salzburg ist in Habana Vieja die Illusion aber noch nicht perfekt. Dafür fehlt das Geld. Zudem weiß man um den Charme der Stadt, der Mischung aus Schäbigem und Mondänem. Die US-Amerikaner nennen so etwas "Eye-Candy" - Süßigkeit für das Auge.
Ein paar Straßen abseits der mit UNESCO-Geldern renovierten Art Deco-Hotels und der großzügigen Plätze, die so penibel gereinigt und behütet werden wie sonst nur das Revolutionsmu-seum und die alten Chevys, wird der Glanz der Perle der Karibik stumpfer. Hier sprießen Palmen in Ruinen ohne Dach. Dafür werden die Abzocker seltener, die einem Zigarren, Rum oder Liebe andrehen wollen. Und Menschen stehen Schlange um Eier, Bohnen und Reis. Fremde sind in solchen Geschäften unerwünscht.
Hinter vergitterten Hauseingängen schauen Menschen auf durchgesessenen Sofas im Fernsehen Salsa-Videos. Kein hektisches Treiben wie in anderen Städten Lateinamerikas. Mag sein, dass so die Gelassenheit von Menschen aussieht, die der Konsumgesellschaft entronnen sind. Zufriedenheit verströmt allerdings keiner, mit dem man spricht. Stattdessen: Langeweile, ein Land auf Valium, im Dämmerzustand, um sich die Zeit zur Ankunft zu verkürzen.
Aber wo will diese Insel überhaupt hin? Und wer will hier landen? Der Kapitalismus? Der ist schon hier, gibt sich jedoch schüchtern. Noch dominieren Fahrrad-Taxis das Straßenbild Havannas. Auf dem Land rumpeln die Pferdewagen. Castro wollte die Prostitution einst verbieten: Jetzt verkaufen sich Zwölfjährige auf den Stränden.
Die Zukunft liegt immer im Dunkeln. In Kuba wie anderswo. Aber es ist davon auszugehen, dass der Mann mit der Gitarre morgen wieder Dienstleister sein wird. Und die Kulisse solider.
Matthias G. Bernold, geboren 1975, lebt als Journalist in Wien.