Als ich mir meine erste Tätowierung machen ließ, reagierte meiner Familie irritiert. "Der Bua ist jetzt ganz deppert g’worden", lautete der Tenor. Eine Tätowierung, so die Meinung meiner Verwandten, war etwas für Strizzis und Matrosen. Einzig meiner Omi gefiel der neue Körperschmuck. Sie, die den Großteil ihres Lebens so besorgt darum gewesen war, "was die Leute sagen werden", öffnete sich an ihrem Lebensabend der Gelassenheit: "Sieht sehr schön aus", befand sie, "vor allem die Sonne".

Nun: Omi lag damals - das neue Jahrtausend hatte gerade begonnen - goldrichtig. Die Zeiten, als Tattoos Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Randgruppen signalisierten, waren vorbei. Fußballspieler, Pop-Sternchen und die Tochter eines Notars trugen ebenso selbstverständlich Blech an den Augenbrauen wie "Geweihe" auf der Haut.

Trotz des Vordringens in bürgerliche Schichten bewahrte sich das Stechen-Lassen jedoch lange die Aura der Wildheit und des Ungehorsams. Gepflegt wurde dieses Bild von den Tattoo-Studios, die in der Regel ein bisschen nach heruntergekommenem Frisiersalon und Amsterdamer Coffee-Shop aussahen. Manchmal rochen sie auch so. Fotografien an den Wänden erzählten von Blut, Schmerz und Rock’n’Roll.

Inzwischen sind selbst die Zeiten gespielter Wildheit zu Ende gegangen. Subversiv ist an Tätowierungen gar nichts mehr. Wie bürgerlich es in der Branche zugeht, stellte ich fest, als ich mehrere Wiener Studios besuchte, um mir ein Fahrrad-Tattoo stechen zu lassen. Im ersten Stock eines Gründerzeit-Hauses in der Neubaugasse öffnete mir ein bärtiger Riese die Tür. Entsprachen Gestalt und Vielfarbigkeit des Bärtigen noch ganz meiner Erwartung, stieß mich sein Verhalten hingegen vor den Kopf. "Bitte die Schuhe ausziehen", sagte er, ehe er mich in den Salon geleitete. Das Ambiente war elegant: ein Regal aus einem antiken Kanu geschnitzt, abstrakte Malereien an den Wänden. An einem Esstisch aus Teak warteten drei junge Frauen (in Socken) und lauschten dem Surren der Stechmaschinen, das aus dem Nebenraum drang.

Irgendwann trat ein Tätowierer mit Hornbrillen an mich heran. Meine Frage, ob er mich nicht spontan einschieben könne, entlockte ihm ein mildes Lächeln. Ein Termin Mitte Mai sei der früheste, den er mir anbieten könne.

Ich ging wieder, enttäuscht. In einer Seitenstraße der Wienzeile fand ich schließlich einen Tattoo-Shop, in dem ich mich besser aufgehoben fühlte: zappenduster, es roch nach kalten Zigaretten. Die Fotografien an den Wänden erzählten von Blut, Schmerz und Rock’n’Roll. So gefällt mir das. Da bin ich vielleicht etwas altmodisch. In einen dieser progressiven Hippster-Läden kann ich ja in ein paar Jahren gehen, wenn ich ein bisschen offener geworden bin.

Matthias G. Bernold, geb. 1975, lebt als Journalist in Wien.