Severin Groebner ist Kabarettist, Autor und Gründungsmitglied der "Letzten Wiener Lesebühne". Sein neues Buch mit zahlreichen Kolumnen (unter anderem auch aus der "Wiener Zeitung") heißt "Lexikon der Nichtigkeiten" und ist im Satyr-Verlag (Berlin) erschienen.
Severin Groebner ist Kabarettist, Autor und Gründungsmitglied der "Letzten Wiener Lesebühne". Sein neues Buch mit zahlreichen Kolumnen (unter anderem auch aus der "Wiener Zeitung") heißt "Lexikon der Nichtigkeiten" und ist im Satyr-Verlag (Berlin) erschienen.

Oft fallen dem Exilwiener, der sich in den deutschen Landen niedergelassen hat, die Unterschiede dieser doch recht verschiedenen Kulturkreise auf, und ein Lächeln huscht über seine Pils-geprüften Lippen. Dann fügt er sich wieder in sein Schicksal, sagt "hoch" statt "auffe", "laufen" statt "gehen", "Kaffè" statt "Kaffeeeeee" und freut sich gleichzeitig, dass weder die Hatschi Strachi noch das Team Strohsack in Deutschland auf dem Wahlzettel stehen.

Und doch gibt es Tage, an denen die unterschiedlichen Mentalitäten wie weggewischt erscheinen. Denn während der ungeübte Beobachter an diesem Samstag mit dem rein deutschen Champions-League-Finale und dem Wiener Life Ball nur Gegensätze zu entdecken meint, sind es in Wahrheit die Ähnlichkeiten, die diesen Samstag klar zutage treten: Hier wie da feiern die Menschen ein dionysisches Fest, schmieren sich Farben ins Gesicht (in Deutschland entweder Rot-Blau oder Schwarz-Gelb, und wenn man sich gar nicht entscheiden kann Schwarz-Rot-Gelb, in Wien dagegen eine beliebige Kombination, dafür muss man beim Gesicht nicht aufhören zu schmieren), treten in unvorteilhaften Kostümierungen auf und bejubeln ein Ereignis, das ohne ihre Anwesenheit und Zutun gar nicht stattfinden könnte.

In beiden Fällen werden gleichzeitig einzelne Individuen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, deren gesellschaftliche Stellung dies ohne diese "Events" wohl nicht erlauben würde. In Deutschland darf beispielsweise ein der Steuerhinterziehung angeklagter Wurstfabrikant in der VIP-Lounge sitzen, nur weil er einem der beiden Gladiatoren-Verbände vorsteht. In Wien jubelt man dagegen einem "internationalen Designer" und seinen "Kreationen" zu, um davon abzulenken, dass es sich hierbei lediglich um einen ausländischen Schneidermeister handelt, der versucht, seine im Alltag völlig untragbaren Fetzen an den Mann - oder die Frau - zu bringen. In beiden Fällen werden auch die Zaungäste umgetauft: Einmal heißen sie "Fans" oder "Schlachtenbummler", im anderen Fall "Party-Meute" oder "Fashion Victims" (wobei es nicht klar ist, ob es sich bei "Fashion Victims" nicht eigentlich doch um Menschen in Bangladesch handeln sollte, die in einstürzenden Textilfabriken zu Tode kommen).

Und natürlich muss auf die integrative Kraft dieser Events hingewiesen werden: Menschen, die sonst in prekären Lebensverhältnissen dahinvegetieren, werden für die Dauer des Events in die enthusiasmierte Gemeinschaft aufgenommen. In Deutschland dürfen sich auch Langzeitarbeitslose, stadtbekannte Trinker und sogar der Finanzminister in diesen 90 Minuten als Teil der Zuschauermassen fühlen.

Wien öffnet dagegen die Tore des Rathauses für gescheiterte Existenzen wie Ex-Models, Ex-Schauspieler und Ex-Präsidenten. Das ist schön. Und wie bei allen heiligen Riten gilt: absolutes Ironie-Verbot!

Wer sich über diesen Massenhokuspokus lustig machen würde, der bekäme es mit den Hohepriestern des Kults zu tun: Gerry Keszler und Franz Beckenbauer.

Und das will ja keiner.