
Der Mann am Nebentisch hat zwei herausragende Eigenschaften. Erstens einen gesunden Appetit und zweitens ein gesteigertes Mitteilungsbedürfnis. Das sind Dinge, die bei normalen Menschen eigentlich ausschließen, dass beiden Neigungen gleichzeitig nachgegangen werden kann. Bekanntlich ist ja die Öffnung für den Nahrungsmitteleintritt und den Schallaustritt dieselbe. Nicht so bei dem Herrn am Nebentisch. Der palavert munter weiter, während Fleisch, Beilage, Salat und Bier langsam aber sicher in ihm verschwinden. Sein Gegenüber dagegen sagt außer "Aha!" und "Mhm!" gar nichts. Ob das an dem Salat liegt, in dem er lustlos herumstochert, oder dem Wortschwall des anderen, kann nicht geklärt werden. Es ist auch nicht wichtig, denn der Wortführer spricht genügend Silben pro Minute in die Luft. Und er hat durchaus etwas zu sagen. Etwas Historisches. Über Amerika.
"Du musst Dir vorstellen, wie das damals war! Auf einmal gibt’s ein völlig neues Land! Verstehst? Da gibt es plötzlich neben Spanien . . ."
Naja, denk ich mir, die Lage des amerikanischen Kontinents als "neben Spanien" zusammenzufassen, ist ungefähr so korrekt, wie wenn man sagen würde, Wien liegt nördlich von Nairobi.
"Da gibt es plötzlich neben Spanien ein riesiges Land! Dreimal so groß wie Spanien!"
Was hat denn der Mann bloß mit Spanien? Und das Vergleichen von Größenverhältnissen liegt ihm auch nicht unbedingt.
"Weil das war damals ja so in Europa: Die Pfarrer haben den Leuten Angst gemacht und der Fürst hat ihnen das Geld weggenommen."
Und heute ist das so in Europa: Da machen der Boulevard und die Glotze den Leuten Angst und die Sozialversicherung und die Steuer nehmen ihnen das Geld weg. Aber abgesehen davon, finde ich, dass der Vortrag eine interessante Wendung nimmt. "Da gibt es so einen Spruch dazu. Kommt der Bischof zum König und sagt: Halte du sie arm, ich halte sie dumm!"
Der Spruch ist gemerkt. Muss nur aktualisiert werden. Kommt ein Herausgeber zu einem Landeshauptmann und sagt: Eröffne du einen neuen Kreisverkehr, ich schreib‘ darüber. "Und dann gibt’s da auf einmal ein neues Land. Riesig! Ohne Leute . . . ja, die Indianer, aber das waren nicht so viele und die sind ja dann auch schnell gestorben . . . und da kannst du einfach hinfahren und alles machen, was du willst! Verstehst du?"
Tatsächlich ist das eine verlockende Vorstellung bei gleichzeitiger Verniedlichung eines Völkermords.
"Du kannst sagen, was du willst, du kannst gehen, wohin du willst, und jeder, der deinen Besitz betritt, den kannst du erschießen. Wenn du mich fragst: Das ist mein Traum!"
Wie unterschiedlich Träume doch sein können. Hab ich vor zwei Sekunden noch gedacht, es ginge um die Errungenschaft der individuellen Freiheit, so dreht es sich hier lediglich um das gefeierte Recht, seine Mitmenschen jederzeit über den Haufen knallen zu können.
Dabei heißt es immer: Amerika hätte seine Anziehungskraft verloren. Stimmt nicht. Das Amerika von George Zimmerman hat viele Fans hierzulande.