Vor etlichen Jahren blätterte ich in einem Cartoon-Buch von Erich Rauschenbach mit dem Titel "Kann denn Fünfzig Sünde sein?" und blieb gleich auf einer der ersten Seiten hängen: Ein voll besetzter U-Bahn-Waggon, fast ausschließlich Jugendliche auf den Bänken, in der Mitte zwei nicht mehr ganz junge Männer, und der eine sagt zum anderen: "Der Erste, der mir einen Platz anbietet, kriegt eins in die Fresse!" Damals hatte ich noch kein einziges weißes Haar und musste herzlich lachen.

Unlängst war Klassentreffen. Bei diesen Zusammenkünften beginnen die Gespräche schon lange nicht mehr mit "Weißt du noch, wie wir auf dem Schikurs in Saalbach. . ." oder "Wenn du mich damals in Mathe nicht hättest abschreiben lassen"; es geht eher um das schulische oder berufliche Vorankommen der Kinder, den Gesundheitszustand der Eltern, fallweise bereits um den eigenen. Die einen berichten von unaufschiebbar gewordenen Eingriffen (nein, nicht kosmetische, sondern tatsächlich notwendige), andere fahren in Kürze auf Kur oder sinnieren über das Leben nach der Pensionierung. Immerhin hat noch niemand, soweit ich weiß, sich in einem Altersheim angemeldet. Aber Rauschenbach war im Geiste bei uns. Eines unserer "Mädchen" erzählte amüsiert, ein junger Mann sei neulich ihretwegen in der Tramway aufgestanden. Die Reaktionen reichten von bedeutungsschwerem Nicken über passabel gemimtes ungläubiges Kopfschütteln bis zu einem sarkastischen "Jetzt geht’s dahin".

Und wie schnell es dahingehen kann, musste ich kürzlich in einem Zielpunkt zur Kenntnis nehmen. Ich wollte eben bezahlen und kramte in meiner Geldbörse, als ich die Kassierin sagen hörte: "Sind Sie Pensionist?" Klar, dass ich nicht antwortete, ich konnte ja auch nicht gemeint sein.

Die junge Frau wiederholte ihre Frage - und da sah ich, dass ich in meiner Schlange der einzige meiner Alterskohorte war. Ich überschlug kurz angemessene Möglichkeiten einer Entgegnung. Die von Rauschenbach skizzierte Reaktion erschien mir überzogen, aber zu einem bissigen "Wie wär’s mit einer Brille?" hätte es fast gereicht. Schließlich verneinte ich knapp und bezahlte. "Nehmen Sie das nicht persönlich", versuchte die Kundin, die hinter mir gewartet hatte, mich zu trösten. Als ob das nicht schon persönlich genug wäre. "Am Mittwoch ist für Pensionisten alles um zehn Prozent billiger", klärte sie mich auf. Zwar nur mit Ausweis, aber wenn man den vergessen habe. . . Ich hätte also nur halbwegs deutlich "Ja" sagen müssen. So weiß ich wenigstens künftig, was ich zu tun habe.

Es sollte anders kommen. Am darauf folgenden Mittwoch sitzt wieder die charmante junge Dame an der Kasse, die mich immer so nett begrüßt und mir nie derart persönliche Fragen stellt. Sie lächelt und sagt tatsächlich "Servus". Ich blicke mich sicherheitshalber um und sehe: ich bin der einzige Kunde an der Kasse. Also keine zehn Prozent, dafür auch kein Pensionist. Alles bestens.

Hans-Paul Nosko, geb. 1957, lebt als Journalist in Wien.