
Mit einer dynamischen Bewegung zieht er die Hüfte Richtung Überhang, die rechte Hand schnellt nach oben, packt kraftvoll zu. Für einen Moment sieht es aus, als würde er fallen, die Beine pendeln in der Luft. Dann finden die Füße neuen Halt. Noch ein Zug, totale Körperspannung: Unter dem dicht behaarten Rücken spannen sich die Muskeln. Der Mann schwitzt richtig stark. An den krausen Haaren seines Nackens sammeln sich salzige Tropfen. Ein letztes Aufbäumen. Ein Stöhnen, ein Grunzen, ein Schrei aus bärtiger Kehle! Dann stürzt der Behaarte seinen Schweißtropfen hinterher Richtung Erde. Dicke Matten federn seinen Aufprall.
Wir befinden uns in der Boulder-halle Walfischgasse. Einer Sportanlage des Alpenvereins mitten in der Wiener Innenstadt. Bouldern heißt Klettern ohne Seil und in geringer Höhe, die sicheres Abspringen zulässt. Hier trainieren Bergsteiger, hier stählen sich Kraft-sportler, denen das Gewichtepumpen langweilig geworden ist. Einige betreiben das Bouldern auch wettbewerbsmäßig oder fühlen sich auf den Kunststoffwänden mit den bunten Griffen so wohl, dass sie alle Tage hier vorbeikommen.
Der Behaarte gehört zur letzten Gruppe. Und wenn er die Halle betritt, dann merken es alle. Weniger, weil er ohne Leibchen klettert - darüber kann man geteilter Meinung sein. Sondern weil er seine Anwesenheit akustisch begleitet. Mal gibt er Laute der Anstrengung, des Zorns oder Triumphs von sich. Mal kommentiert er oder reflektiert, was er als nächstes (besser) machen könnte. Ob in der Wand oder darunter: Der Mann tönt.
Damit erinnert er mich an meine neugeborene Nichte. Auch das vor acht Wochen geschlüpfte Wesen mit den winzigen Füßen ist akustisch allgegenwärtig: weint, gluckst, kickst, brabbelt. Ohne ausgeprägten Sehsinn, ohne Kontrolle über die Gliedmaßen und Körperfunktionen, in völliger Abhängigkeit von seinen Eltern, scheinen Geräusche für die junge Verwandte eine Art Selbst-Verortung im Raum zu sein. Ein Echolot zur Feststellung der eigenen Existenz.
Vielleicht sucht auch der Pelzige auf diese Weise Gewissheit für das eigene Dasein. Wer laut denkt, kann sicher sein, dass er mehr ist als bloß Gedanke. Sozusagen: Ich lärme, also bin ich. Vielleicht ist dies auch die Motivation jener Menschen, die so gerne zu später Stunde mit heulenden Motoren durch enge Gassen rasen.
Bleibt die Frage, wie wir mit der Geräuschentwicklung umgehen. Einfach gewähren lassen? Den Motorenlärm, die Schreie des Pelzigen demütig oder gar freudvoll hinnehmen wie das Gebrabbel des Neugeborenen? Oder aktiv werden? Das Tönende als einen Schrei nach Liebe interpretieren? Vielleicht einmal nachfragen, oder noch besser: Einfach in den Arm nehmen und ganz fest drücken. . .