Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. - © Daniel Novotny
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. - © Daniel Novotny

Angesichts des auf Dauer gestellten Scheiterns - der EU Gipfel, die "Polykrisen" (Juncker), die Unmöglichkeit, eine Lösung für die akute Flüchtlingssituation durchzusetzen. Angesichts der Frage, ob Schengen - also der freie Waren- und Personenverkehr - aufrecht bleibt, überhaupt oder reduziert. Angesichts all dessen wird mittlerweile fast täglich das Ende der EU beschworen. Oder an die Wand gezeichnet. Als Menetekel.

Aber auch wenn wir alle merken, dass das europäische Getriebe knirscht. Dass die Haltungen auseinanderdriften. Etwa wenn Deutschland und Österreich "Solidarität" als Grundwert der EU einmahnen und dies bei den Visegrád-Staaten als "Diktat" ankommt, ein Diktat, dem sie "nicht folgen werden". Dann scheinen die Vorstellungen, was Europa ist, was es sein sollte, so auseinanderzugehen, dass man keinen gemeinsamen Nenner mehr auszumachen vermag.

Können wir uns eigentlich vorstellen, was so ein reales Ende der EU wirklich bedeuten würde? Wir können es uns nicht vorstellen. So wie wir uns in Prä-EU-Zeiten nicht vorstellen konnten, was es bedeuten würde, in einem vereinten Europa zu leben. Unsere Vorstellungskraft, unsere politische Vorstellungskraft ist eher verkümmert. Das ist nicht notwendigerweise ein Manko. Es ist vielmehr Folge der Selbstverständlichkeit, mit der wir in unserem jeweiligen politischen Universum leben. Und mittlerweile ist dieses die EU. Wir sind längst angekommen. Die Vorstellung, dieses Universum zu überschreiten, ist - im wahrsten Sinne des Wortes - jenseits unseres Horizonts.

Jetzt könnte man einwenden: Was aber ist mit jenen, die ständig nach dem Ende der EU rufen? Nach Austritt, Auflösung - egal was, nur Schluss mit dem Spuk aus Brüssel. Auch diese, nein: Gerade diese haben keinerlei politische Vorstellungskraft. Das Einzige, was sie sich "vorzustellen" vermögen, ist die Rückkehr zu dem, wie es früher war. Eine Rückkehr zum Nationalstaat, zu geschlossenen Grenzen und territorialer Souveränität. Das ist Zombie-Politik: eine Gespenstervision - keine Vorstellungskraft.

Denn diese gibt vor, solch eine Rückkehr wäre möglich. Als ob sich die Menschen nicht verändert hätten. Als ob Sie, ich, wir alle nicht längst zu Europäern geworden wären. Als ob das Schließen der Grenzen durchsetzbar wäre, wenn eine Einschränkung der Reisefreiheit daraus folgen würde. Als ob man auf die Entprovinzialisierung verzichten könnte - vor allem jene der Politiker. Wenn etwa Martin Schulz die Aussagen von Mikl-Leitner als "intellektuelle Leistung" bezeichnet. Sarkastisch. Wer wollte auf dieses antiprovinzielle Korrektiv noch verzichten?

Vor allem aber verkennen diese Rufer, dass der Nationalstaat keine Lösungen für die Krisen zu bieten hat. Keines der anstehenden Probleme ist national zu lösen. Genau deshalb wäre das Ende der EU eben nicht die Rückkehr zum Status quo ante. Man kann nicht zu den alten Nationalstaaten zurückkehren und die europäische Erfahrung einfach durchstreichen. Man kann die umgewöhnten Menschen nicht in die Kleinstaaterei zurück zwingen.

Das wahre Menetekel ist Ungarn. Oder Polen: nicht die Neuauflage der alten Nationalstaaten, sondern jene von autoritären Lösungen. Politische Vorstellungskraft wäre nur dort, wo sie etwas Neues zu denken imstande wäre.