Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. - © Daniel Novotny
Isolde Charim ist Philosophin und Publizistin und arbeitet als wissenschaftliche Kuratorin am Kreisky Forum in Wien. - © Daniel Novotny

Nadja Tolokonnikowa, Pussy-Riot-Mitglied, die für ihre Putin-Kritik zwei Jahre im Arbeitslager war, hat erklärt: "Du musst aus moralischer Pflicht handeln und kannst nicht einfach einen moralischen Gewinn erwarten." Moral ist also ein Appell an den Einzelnen. Das lässt sich nicht delegieren.

Tatsächlich aber war das Outsourcen von moralischem Handeln, also dessen Verstaatlichung - das war mal progressiv. Denn es hat Bedürftige von der feudalen Willkür befreit. Vom Almosen zum Recht, zum Anspruch auf Unterstützung - das war ein großer Fortschritt.

Heute aber, in der Flüchtlingskrise, verkehrt sich das. Regierungen in ganz Europa geben Geld aus, sehr viel Geld - um ihre jeweiligen Grenzen und um die "tödlichste Grenze der Welt", das Mittelmeer, zu sichern. Sichern bedeutet dabei: Sicherung vor und nicht Sicherung der Flüchtlinge.

Für deren Sicherheit muss privates Engagement auf den Plan treten. Was die Willkommenskultur auf den Bahnhöfen im Kleinen war, das ist "Sea Watch" im großen Maßstab. "Sea Watch" - das ist eine zivile Seenotrettung von Flüchtenden.

Da haben sich ein paar Familien aus Brandenburg zusammengetan und haben mit privaten Spenden einen alten Fischkutter umgebaut. Damit haben sie eine Nothilfe für Flüchtlingsboote in Seenot gestartet. "Sea Watch" ist mittlerweile ein Verein mit zwei Dutzend Freiwilligen, die ehrenamtlich mithelfen. Seit November 2015 ist "Sea Watch" vor Libyen im Einsatz. Mehr als 2000 Menschen konnten gerettet werden.

Einer der Skipper meinte in einem kurzen Video: "Wir fühlen uns verantwortlich." Was macht es, dass Menschen im Norden Deutschlands sich vom Elend im Mittelmeer so angerufen fühlen, dass sie beschließen: Wir müssen handeln. Konkret. Effizient. Vor Ort. Die Hilfe, die Rettung der Flüchtenden kann nicht den öffentlichen Institutionen der EU überlassen werden. Denn diese sind nicht willens zu helfen.

"Sea Watch" ist "religiös, politisch und finanziell unabhängig." Es wird also weder von Parteien noch von Kirchen unterstützt. Es finanziert sich ausschließlich durch private Spenden (www.sea-watch.org). Und heute ist solch eine Privatisierung des Helfens ein Fortschritt. Nicht nur weil Private selbstinitiativ dort eingreifen, wo staatliche Institutionen versagen oder gar gegensteuern. Sondern auch, weil solch ein Handeln ein moralisches Handeln im emphatischen Sinne ist: das Erfüllen von dem, was man als seine Pflicht versteht. Ohne Gewinn, ohne Profit. Solch ein Handeln, das gewissermaßen inkommensurabel ist, das sich der Tauschlogik verweigert - solch ein Handeln ist heute radikal. Deshalb kann ein Einsatz wie jener der "Sea Watch" die europäischen Institutionen unter Druck setzen - also jene, die für solche Rettungsmaßnahmen eigentlich verantwortlich wären.

Dieser Tage startete das zweite Boot, "Sea Watch2". Ein größeres Boot, das - auch nur privat finanziert - nun zusätzlich mit einer Krankenstation ausgestattet ist. Diesmal nimmt es seine Rettungsmission in der gefährlichen Meerespassage vor Lesbos auf. "Sea Watch 2" wurde auf den Namen "H. E. Thompsen" getauft. Dieser rettete im Zweiten Weltkrieg über tausend Juden. Indem er sie heimlich von Dänemark nach Schweden brachte. In einem Boot.