Fühlt sich auch in der Stadt vielfach ländlich - und changiert dabei in der Selbsteinschätzung zwischen Abenteurer und Dorfdepp: Gerald Schmickl - © privat
Fühlt sich auch in der Stadt vielfach ländlich - und changiert dabei in der Selbsteinschätzung zwischen Abenteurer und Dorfdepp: Gerald Schmickl - © privat

In dem lesenswerten Buch "Ich bleib in der Stadt und verreise" des Autors und Musikers Oskar Aichinger, das mäandernde Spaziergänge durch Wien sehr subjektiv und anschaulich beschreibt (siehe dazu auch Text in der "Wiener Zeitung"), findet sich eine Stelle, die auf urbane Höhenunterschiede verweist: "Man darf sich nicht täuschen, auch in der Stadt gibt es Berge und Täler, und mit ihnen Sonn- und Schattseiten, sehr viele sogar. Die Häuser bilden die Bergrücken, während in der Talsohle Verkehr und Menschen fließen."

Es sind dies aber nicht die einzigen - und keineswegs nur metaphorischen - Gemeinsamkeiten und Annäherungen von Stadt und Land. In Zeiten, in denen - vor allem nach divergierenden Wahlergebnissen von Städten und (Bundes-)Ländern - die Unterschiede zwischen diesen beiden Lebensformen eklatant und unüberbrückbar erscheinen, muss man die Perspektiven wieder zurechtrücken. Daher behaupte ich: Man lebt auch in der Stadt vielfach wie am Land.

Das beginnt schon damit, dass man - Stichwort Grätzel - einen bestimmten Stadtteil so bewohnt, als wäre er ein Dorf. Man bewegt sich vorwiegend in diesem, durchwandert ihn, hat seine vertrauten Ecken, Häuser und - zum Glück - oft auch Bäume, seine spezifischen "Nahversorger", also Geschäfte, Dienstleister, Supermärkte oder Lokale. Das Stammcafé oder -wirtshaus ist eine dieser typischen re- gionalen Institutionen, die in ihrer kommunikativen Heimeligkeit viel eher bukolischer denn urbaner "Natur" sind.

Oskar Aichingers Spaziergänge durch Wien führen nicht nur über Stock und Stein, sondern auch über (Häuser-)Bergrücken und durch (Verkehrs-)Talsohlen . . . - © Picus Verlag
Oskar Aichingers Spaziergänge durch Wien führen nicht nur über Stock und Stein, sondern auch über (Häuser-)Bergrücken und durch (Verkehrs-)Talsohlen . . . - © Picus Verlag

Je näher man in Wien den inneren Bezirken kommt, umso dörflicher wird die Struktur. Der (dritte) Bezirk "Landstraße" macht es etwa schon namentlich deutlich. Und dieses Grätzel - man denke etwa an den Rochusmarkt und seine Umgebung - ist typischerweise kleinteilig und semi-dörflich.

Wobei sich die Verhältnisse zunehmend umkehren: An den Stadträndern, wo man es eher ländlich erwarten würde, wird es urbaner - wenn man darunter mehr Anonymität und weniger Vertrautheit versteht. Große, unpersönliche Einkaufscenter, Groß(feld!)siedlungen, lange Anfahrtswege, mehrspurige Straßen prägen das (unwirtliche) Bild. Aber das ist ja in Wahrheit am Land mittlerweile auch nicht anders: dort verlagert sich ebenfalls fast alles nach außen, während die Ortskerne veröden. Die geselligsten und dörflichsten Idyllen finden sich heute, wie gesagt, in innerstädtischen Bezirken. Autobefreit und innenhofbegrünt, gelingt - ob mit oder ohne politische Grünverantwortliche (die bekanntlich im urbanen Bereich am besten gedeihen, selbst nach der fraktionellen Sonnenfinsternis vom 15. Oktober) - die Annäherung an ein natürliches Leben noch am ehesten.

Große, reißende Flüsse findet man im Stadtzentrum freilich nicht - die muss man imaginieren. Dafür eignen sich dicht befahrene Straßen gut. Auf meinem Weg ins Fitnesscenter (wo ich dann natürliche Bewegung imitiere) muss ich drei solche "Flüsse" überqueren - und komme mir dabei gerne wie ein kleiner Abenteurer vor, der sich von einem (Wienzeile-)Ufer ans andere rettet. Manchmal führen solche Einbildungen aber auch dazu, dass ich mich fühle wie ein fester Dorfdepp.