
Die Partei brauche eine Weiterentwicklung, meinte Obmann Christian Kern, als er diese Woche der Öffentlichkeit eine erneuerte SPÖ vorstellte. Und er fügte hinzu, da seien andere Parteien der SPÖ möglicherweise voraus gewesen. Diese anderen Parteien, die sich schon weiterentwickelt haben, sind offensichtlich jene, die den Schritt hin zu mehr Bewegung gemacht haben. Von Kurz bis Macron also. (Ob Sahra Wagenknechts "Aufstehen" mitgemeint ist, bleibt offen.)
Kern hingegen sucht einen Mittelweg, um Partei, Tradition und Geschichte zu wahren - und dennoch da anzudocken, wo politische Kräfte heute andocken müssen: beim Einzelnen. Nicht bei der Klasse, nicht bei der Schicht, sondern beim Einzelnen. Deshalb ist das neue Grundsatzprogramm, das er nun vorgestellt hat, mindestens ebenso zentral wie die Organisationsreform, die nicht nur anvisiert, sondern gewissermaßen auch schon vollzogen wurde: Die Erstellung des neuen Programms ging aus einer Befragung hervor, zu der Parteimitglieder ebenso wie Nicht-Mitglieder aufgerufen waren. Mischt Euch ein!, lautete die Aufforderung. In der "ZiB2" sprach Kern sogar von einer "sozialdemokratischen Schwarmintelligenz". Ein doppelt interessanter Begriff.
Zum einen verabschiedet er doch den Parteiideologen alten Zuschnitts. Zum anderen aber werden die Kategorien Emanzipation und Ermächtigung aus einem Ziel linker Politik zu deren Mittel - sie müssen also schon vorhanden sein. Im Versuch, die eigenen Mitglieder ernster zu nehmen, hat sich ein anderes Menschenbild eingeschlichen. Ob das nur Kosmetik ist oder eine tatsächliche Veränderung, bleibt offen. Denn die noch viel größere Herausforderung hat Kern selbst benannt: die Sozialdemokratie "als gestaltende Kraft in Österreich und in Europa zu erhalten". "Gestaltende Kraft" aus sozialdemokratischer Sicht aber heißt heute, gegen ein neues politisches Gefühl anzutreten, das all jene teilen, die weder Kurz-Fans noch Strache-Anhänger sind: das Gefühl der Unausweichlichkeit. Das Gefühl, das Politische sei zu einer Art populistischer Epidemie geworden. Zu einer tektonischen Verschiebung. Etwas, das passiert, das um sich greift, dem man nichts entgegensetzen kann. Politik erscheint diesen mittlerweile als etwas, das einem mit naturhafter Zwanghaftigkeit entgegentritt. Etwas, das man nicht beeinflussen, gestalten kann. Etwas, das seinen Gang geht. Als hätte sich Politik in ihr Gegenteil verkehrt, wird sie nicht mehr als Handeln, sondern als Naturereignis erlebt. Der Zeitgeist, der von rechts weht, ist da noch die optimistischere Version.
Dem entspricht die Lähmung, die die Nicht-Einverstandenen erfasst hat - ebenso wie das Fehlen von Opposition, der Mangel an Gegenkräften. Als gestaltende Kraft muss die SPÖ nicht erhalten, sondern wiedergewonnen werden. Denn gestaltende Kraft heißt, gegen diese Lähmung antreten. Heißt, den verlorenen Glauben an die Gestaltbarkeit der Gesellschaft durch Politik wiederherstellen. Heißt, sich dem "Zeitgeist" widersetzen. Heißt, den Glauben an die eigene Kraft wiederbeleben. Ob Kern erfolgreich sein wird, weiß niemand. Aber die Herkulesaufgabe ist damit zumindest klar benannt.