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Die Sozialdemokratie trifft den Nerv der Mehrheit nicht

Von Gerfried Sperl

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Die Sozialdemokraten oszillieren zwischen einem sozialen Liberalismus und einer Arbeitnehmer-Vertretung.


20 Jahre nach der kurzen Blüte der Sozialdemokratie und ihrem darauf folgenden Verwelken ab dem Anfang der 2000er Jahre haben sich die Parteien dieser politischen Richtung noch immer nicht erfangen. Da sie nicht wirklich den Nerv der Mehrheit treffen, geht die Talfahrt bei Wahlen weiter. Spektakulärstes Beispiel ist die SPD, die 1980 noch über 40 Prozent der gesamten Wählerschaft verfügte. Jetzt hat sie weniger als die Hälfte.

Der benachbarten SPÖ geht es vergleichsweise besser. Unter Bruno Kreisky hatte sie 1980 sogar noch einmal die absolute Mehrheit, jetzt liegt sie immerhin bei 27 Prozent. Auch in Schweden geht es den Sozialdemokraten ganz gut - mit Olof Palme an der Spitze lagen sie knapp unter 50 Prozent, jetzt mit dem Gewerkschafter Lövren etwas unter 30 Prozent. Aber das reicht nirgends für eine klare Mehrheit.

Ganz mies steht es mit der demokratischen Linken in Frankreich und in Italien. Lagen sie bei unseren südlichen Nachbarn 2008 noch knapp über 30 Prozent, sind es derzeit ähnlich wie bei der SPD unter 20 Prozent. Die französischen Sozialisten, 2012 immerhin noch an der Schwelle zur 30-Prozent-Marke, dümpeln jetzt bei unter zehn Prozent. Stark sind die Sozialdemokraten zwar auch in Spanien und Portugal nicht, stellen in beiden Staaten jedoch den Ministerpräsidenten - ebenso wie Syriza in Athen.

Marxismus auf den Altärendes Marktes geopfert

An der Schwelle zum 21. Jahrhundert glaubte man, die letzten Reste des Marxismus auf den Altären des Marktes opfern zu müssen. Tatsächlich waren Zugeständnisse an den aufkommenden Neo-Liberalismus anfangs durchaus erfolgreich. In den 90er Jahren haben charismatische Parteiführer wie François Mitterrand, Tony Blair oder Gerhard Schröder eine weiche Linie gegenüber großen Unternehmen verfolgt und Abstriche in der Sozialpolitik gemacht. Das brachte ihnen Stimmen, aber die linken Konturen ins Schwimmen.

Vor allem die soziologischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in Europa haben die "Arbeiterparteien" endgültig ihrer ursprünglichen Basis beraubt. Die Flüchtlinge als ein neues Proletariat sind kein Ersatz. Die aus anderen Kulturen Eingewanderten wählen nach ihrer Einbürgerung nicht links, sondern den rechten Populismus. So oszillieren die Sozialdemokraten zwischen einem sozialen Liberalismus und einer Arbeitnehmer-Vertretung, die immer noch effizienter von den Gewerkschaften wahrgenommen wird.

Die Wahl der Parteivorsitzenden zeigte zuletzt (im Herbst 2018) auch in Österreich dieses Dilemma. Man hat die Ärztin und Angehörige des intellektuellen Flügels der SPÖ, die liberale Pamela Rendi-Wagner, zur Chefin gemacht, weil man glaubte, in ihr einen weiblichen Bruno Kreisky gefunden zu haben. Eine Alternative, Arbeiterkammer-Präsidentin Renate Anderl zum Beispiel, kam erst gar nicht in Betracht. Denn die Partei unterliegt der Fehleinschätzung, zentrale Arbeitnehmerfragen seien weniger wichtig als das Gefühl für die von den Medien gebündelten, aber zerstreuten Randgruppen, vor allem in Wien.

Der deutsche Politikphilosoph Nils Heisterhagen nennt das "linksliberale Überheblichkeit". Da hat er nicht unrecht, weil den bestimmenden Leuten in der SPÖ und in der SPD das Leben mit Mindestlöhnen nicht geläufig ist. Andererseits: Warum hat eine absolute Mehrheit der Österreicher mehrmals Bruno Kreisky, einen linksliberalen Paradeintellektuellen, gewählt? Dass es damals die verstaatlichte Industrie mit ihren tausenden und abertausenden Arbeitern noch gab, ist keine ausreichende Erklärung. Kreisky war eine Ausnahmeerscheinung.

Ein Wettbewerb mitdem Populismus

Weil die Rechtspopulisten mittlerweile - nicht nur in Österreich - zwei Drittel der noch verbliebenen Arbeiterschaft wegen der Ängste vor dem Verlust ihrer Arbeit an billigere Kräfte an sich binden, glauben die am rechten Flügel der Parteien angesiedelten Politikerinnen und Politiker, in einen Wettbewerb mit dem Populismus treten zu müssen. Wegen des generell nach rechts gerutschten politischen Klimas gefährden sie damit jedoch die sozialdemokratischen Grundwerte.

Ein gutes Beispiel dafür ist die Positionierung des neuen burgenländischen Landeshauptmanns Hans-Peter Doskozil am rechten Rand der SPÖ. Die Idee des FPÖ-Innenministers, für (angenommen) gefährliche Asylanten eine Sicherungshaft einzuführen, erweiterte der gelernte Polizist und Jurist um den Vorschlag, dies (nach dem Gleichheitsgrundsatz) auch für potenzielle einheimische "Gefährder" vorzusehen. Zum ersten Mal seit langem kam einhellige Ablehnung von der Opposition, und die SPÖ-Vorsitzende konnte Doskozil dadurch in ein Eck drängen.

Aber nur kurz. Denn fast wöchentlich wird sie aus Eisenstadt direkt oder indirekt kritisiert, so als wollte Doskozil möglichst bald auf zwei Pferden reiten - auf dem des Landes und auf dem der Bundes-SPÖ. Ganz offensichtlich strebt er eine SPÖ-FPÖ-Koalition Anfang der 20er Jahre an. Rendi-Wagner könnte also relativ bald die Luft ausgehen, weil sie gegen Doskozil nicht verteidigt wird. Und weil sie nicht mobilisiert - selbst die Frauen nicht.

Die Europawahlen werden eine Teilklärung des Richtungsstreits bringen. Bei einem Gipfel der europäischen Sozialdemokraten in Madrid im Februar wurde nicht nur ein unumstrittener Spitzenkandidat in der Person des Niederländers und Brüsseler Vizepräsidenten Frans Timmermans gewählt, sondern auch der Kampf gegen den Neoliberalismus, gegen das Diktat des Marktes, proklamiert.

Also genau das, was auch Rendi-Wagner vertritt. Timmermans profitiert von den Auseinandersetzungen der Konservativen mit dem mittlerweile ultrarechten ungarischen Halb-Diktator Viktor Orban. Aber ob das reicht, um einen Sieg der Volkspartei mit dem bayrischen Spitzenkandidaten Manfred Weber zu verhindern, ist fraglich.

Die Leute interessiert der Preis von Brot und Milch

Weber hat diese Woche zwar gegen Orban eine Suspendierung von Ungarns Mehrheitspartei in der Europäischen Volkspartei durchgesetzt, aber die Maßnahme hat vermutlich eine ähnliche Auswirkung wie die Gegnerschaft der Sozialdemokraten zum Neoliberalismus: Den breiten Wählerschichten sind solche Auseinandersetzungen möglicherweise gleichgültig.

Es geht ja "nur" um europäische Grundwerte, die wenigen geläufig sind. Sie sind der Kaviar der Debatte, die Leute interessiert der Preis von Brot und Milch. Die kommenden Europawahlen werden wohl auch eine Weichenstellung sein, ob Brüssel stärker der Macht des Geldes verpflichtet bleibt oder ob das Soziale, das Leben der Schwächeren, gegen den Markt unterstützt wird.