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Si tacuisses

Von Walter Gröbchen

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Sensationsgier ist ein Social-Media-Leitmotiv. In Sondersendungen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hat sie nichts verloren.


Ich halte mich für relativ abgebrüht, was das Thema Medien betrifft. Das gilt sowohl für die traditionelle Medienlandschaft wie auch für die neuen Eckpfeiler der Digitalsphäre (die Bezeichnung "Social Media" rührt von den Anfängen dieser Plattformen her, als ihre negativen gesellschaftlichen Auswirkungen und ihr Disruptionspotenzial kaum noch merkbar waren). Was sich aber dieser Tage rund um den Brand der Notre-Dame-Kirche in Paris entzündet hat auf Facebook, Twitter und im Windschatten der neuen Leitmedien auch anderswo, gibt zu denken.

"Der Brand brachte symbolhaft zum Ausdruck, was viele dumpf unausgesprochen fürchten: dass es mit Europa langsam zu Ende geht", verkündete etwa ein Politprophet auf Twitter. Nachsatz: "Aber das Gerüst steht." Wem würden Sie diesen pathetischen Schwachsinn zutrauen? Victor Orbán? Andreas Mölzer? Dem Identitären-Vordenker Martin Sellner? Nein: Es war der Mediensprecher des Bundeskanzlers, der derartiges von sich gab. Nun ist der Pariser Dom tatsächlich keine profane Allerwelts-Kirche, sondern ein jahrhundertealtes Baudenkmal ersten Ranges. Und für viele Franzosen ein Symbol des politischen, nationalen, kulturellen, religiösen Selbstbewusstseins. Meinetwegen gilt das auch europaweit. Aber dass umgehend der Untergang des Abendlandes ausgerufen wird, weil unglücklicherweise bei Renovierungsarbeiten ein Feuer ausbricht, ist schon speziell weit hergeholt. Ist der Wunsch Vater des Gedankens? Man würde sich wünschen, dass politische Denker und Lenker in Ausnahmesituationen einen kühlen Kopf bewahren. Und nicht reflexhaft einstimmen in den eilfertigen Chor der Menetekel-Rufer.

Generell quollen die Medien in diesen Tagen über vor Emotionen, die der Katalysator - für manche nur ein "Steinhaufen", für andere, doch etwas überraschend, der ewige Mittelpunkt des Gedankenuniversums - eruptiv freilegte. Zu den Betroffenen gehörten nicht nur demonstrativ sensible Seelen ("Es tut wirklich körperlich weh #NotreDame"), sondern auch jene unausweichliche antagonistische Fraktion, die den Dom sofort als Tempel einer menschenverachtenden Religion identifizierte und den Brand als reinigendes Fanal (eine "Strafe Gottes" kann es ja für Atheisten schwerlich sein). Und dann waren da freilich auch alle Moralhuber zur Stelle, die das Ereignis mit verhungernden Kindern in Afrika oder kenternden Flüchtlingsbooten im Mittelmeer gegenrechneten. Puh.

Man ist dieses Tohuwabohu ja gewohnt in Zeiten wie diesen. Wirklich überraschend war dann aber, dass selbst altgediente Medienprofis ihr individuelles Quantum an Trauer, Betroffenheit, Aufgeregtheit und, ja, Hysterie vom ORF widergespiegelt sehen wollten. Stante pede. Ausgerechnet. Dass der heimische Sender nicht umgehend eine Live-Berichterstattung à la CNN inszenierte, wurde als Totalversagen des öffentlich-rechtlichen Systems gedeutet. Zwar sprach die Dichte und Qualität der Berichterstattung klar dagegen - aber mit dem Tornado an (wenig ereignisreichen) Bildern, Infobrocken, Gerüchten, Mutmaßungen, Zynismen und an- und abschwellenden Apokalypse-Schreien, die auf den Online-Plattformen Platz griffen (und greifen), können die alte Tante Fernsehen und das UKW-Dampfradio nicht mithalten. Und wissen Sie was? Gut so.