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Domingo: Der Ruin der Gerechtigkeit

Von Christoph Irrgeher

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MeToo hat seine Meriten. Die Kampagne hat mächtige Belästiger zu Fall gebracht und deren Gesinnungsbrüder in Angst und Schrecken versetzt. Von jakobinischem Eifer getrieben, rauscht die Bewegung in den USA aber auf einen Pyrrhussieg zu. Im Namen der Gerechtigkeit droht sie mit ebendieser kurzen Prozess zu machen.

Schlagendes Beispiel ist der Fall Plácido Domingo. Der Klassik-Star wird ab Ende Oktober zwar an der Wiener Staatsoper singen dürfen. Am Mittwoch hat er seinen Auftritt an der New Yorker Met aber nicht wahrgenommen und wird dort wohl nie mehr auftreten, angeblich auf eigenen Wunsch. Hintergrund: Der betagte Spanier soll in der Vergangenheit mehrere Frauen sexuell bedrängt haben.

Wer sich durch den ausführlichen Bericht wühlt, den die Associated Press (AP) im August veröffentlicht hat, runzelt tatsächlich die Brauen. Sollten (!) die Vorwürfe der weitgehend anonym gebliebenen (!) Frauen zutreffen, hat der Sänger manchen nahezu obsessiv nachgestellt. Das gälte es aber zu beweisen. Vor dem "Rückzug" Domingos hat jedoch weder ein Gericht einen Schuldspruch gefällt, noch scheint die Met die Ergebnisse jenes Gremiums abgewartet zu haben, das die Vorwürfe derzeit an der Oper von Los Angeles prüft. Zurück bleibt ein über 70-Jähriger, der dank der Gnade der Natur noch singen könnte, wegen der Ungnade eines toxischen Zeitgeists aber besser schweigt. Um es zu betonen: Es geht hier nicht um Fantum. Es geht um etwas, das die westliche Welt über Jahrhunderte mühsam zu errichten versucht hat: die Herrschaft der Vernunft.