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Der Schein trügt

Von Konrad Paul Liessmann

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Der Autor ist ein österreichischer Philosoph, Essayist und Kulturpublizist. Er ist Universitätsprofessor für "Methoden der Vermittlung von Philosophie und Ethik" an der Universität Wien.
© Heribert Corn

Die Plagiatsaffäre, die zum raschen Rücktritt der Arbeitsministerin geführt hat, weist einige Aspekte auf, die über den individuellen Fall weit hinausreichen. Dass die Ex-Ministerin ihre Arbeiten nach bestem Wissen und Gewissen verfasst hat, will man sogar glauben. Raffinierte Täuschungsabsichten lagen hier wohl nicht vor, eher eine fachliche und stilistische Unbedarftheit, die man schon zum Anlass nehmen könnte, darüber nachzudenken, welche Erwartungen an akademische Abschlussarbeiten überhaupt noch gestellt werden.

Universitäten etwa stehen vor einem veritablen Dilemma: Ihre Finanzierung ist mittlerweile unmittelbar an positiv abgelegte Prüfungen und rasche Studienabschlüsse gebunden, und es kann nicht ausbleiben, dass gelegentlich Anforderungen gesenkt werden, um den Absolventenausstoß zu erhöhen. Es ist kein Geheimnis, dass im Zuge dieser Entwicklung der Wissenschaftsbegriff verwässert wird und gerade in den Sozial- und Humanwissenschaften angesagte Phrasen und zeitgeistige Fragestellungen über so manche gedankliche Leere hinwegtrösten müssen. Dass im Titel der nun inkriminierten Diplomarbeit das Zauberwort "Kompetenz" aufleuchtet, entspricht diesem Trend. Wer "Kompetenz" sagt, hat bekanntlich immer recht. Und seit im Bildungs- und Wissenschaftsbereich exzessiv gegendert wird, zählen Stil oder grammatikalische Korrektheit ohnehin nicht mehr zu den Kriterien für eine angemessene Ausdrucksweise.

Es ist richtig, unter diesen Bedingungen wenigstens auf die penible Einhaltung der formalen Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens zu beharren und standardisierte Zitationsweisen ebenso einzufordern wie schematisierte Verfahren und Methoden. Und natürlich ist es peinlich, unredlich und unverzeihlich, wörtliche Zitate aus anderen Arbeiten nicht nachzuweisen. Wie das aber einer Generation erklären, der man eingeredet hat, alles sei im Internet zu finden und die Autorität des Netzes mache eine kritische Überprüfung und exakte Recherche nahezu überflüssig?

Allerdings kann übertriebene Genauigkeit auch Ausdruck einer Engstirnigkeit sein, die verkennt, dass manche Grenzen eben nicht so einfach zu ziehen sind, wie es sich der penible Fußnotenzähler gerne vorstellt. In den Geisteswissenschaften war es durchaus üblich, mit Zitaten oder Paraphrasen zu arbeiten, deren Autoren und Fundstellen diskret verschwiegen wurden, weil man Leser voraussetzen durfte, die solch eine subtile Anspielung erkannten. Mit dem Verlust der Bildung verschwinden diese Möglichkeiten, und wer heute gegen Ende seiner Studien ohne Quellenangabe ein resignierendes "Da steh ich nun, ich armer Tor" hinschreibt, wird von der Plagiatssoftware gnadenlos überführt. Und aller Witz ist dahin.

Wohl hat der Eifer, mit dem Privatfirmen die Legitimität von teils weit zurückliegenden Studienabschlüssen überprüfen, etwas Jakobinisches an sich. Dennoch sollte klar sein: Wer fast jeden Beruf akademisieren will, immer mehr junge Menschen - mitunter gegen deren Wünsche - in eine tertiäre Ausbildung drängt, ohne entsprechende Mittel dafür zur Verfügung zu stellen, darf sich nicht wundern, wenn die angepeilten hohen Akademikerraten mit einem Qualitätsverlust erkauft werden müssen. Stilsicheres Schreiben, wissenschaftliches Interesse, intellektuelle Redlichkeit, souveräne Sachkenntnis und die Kunst der freien Rede nehmen im Zeitalter der Module, Versatzstücke, ideologischen Wendungen und vorgefertigten Präsentationen rapide ab. Hauptsache, die Titel vermehren sich, und der Schein erfolgreicher Bildungsanstrengungen bleibt gewahrt. Doch der Schein trügt.