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Der Boykott und die Vernunft

Von Edwin Baumgartner

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"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.

Valery Gergievs West-Karriere ist beendet. Dass der 68-Jährige außerhalb Russlands je wieder einen Fuß auf ein Dirigentenpodest setzen kann, gilt als unwahrscheinlich. Anna Netrebko lächelt mit der Ankündigung ihres Konzerts am 22. Juli im Konzerthaus zwar noch von Wiener Litfaßsäulen, aber der Abend ist bereits abgesagt. Der Westen lernt gerade, wie seine Opernhäuser ohne die Starsopranistin Nummer eins auskommen.

Wer partout auf keinen von Wladimir Putins Kulturbotschaftern verzichten will, dem bleibt die CD. Der Tonträgermarkt nämlich nimmt zumindest vorerst keine Netrebko- und keine Gergiev-Aufnahmen aus dem Programm. Es obliegt den Fachgeschäften, ob sie die Gergiev- und Netrebko-CDs (und den Buchhandlungen, ob sie das Netrebko-Kochbuch) aus den Auslagen verbannen.

Nun hört man oft, es sollten im Sinne des Boykotts auch alle Ton- und Bildträger mit Gergiev und Netrebko eingestampft werden. Doch es ist etwas anderes, die beiden Künstler bei Live-Auftritten zu ersetzen, als ihre Einspielungen zu streichen. Dass die Aufnahmen von russischer Musik im Klassik-Sektor vor allem mit Gergiev und fallweise auch mit Netrebko verbunden sind, hängt mit einer Jahrzehnte lang gewachsenen Struktur zusammen. Eine Unterdrückung von allem, woran sie Anteil hatten, käme nicht nur einer Sippenhaft gleich, es wäre auch die Basis für eine Mystifizierung. Der Fall des zur Legende hochgespielten NS-Dirigenten Leopold Reichwein zeigt, welch giftige Blüten das treiben kann.