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Das "Gesetz der wachsenden Glieder"

Von Robert Sedlaczek

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Robert Sedlaczek ist Autor zahlreicher Bücher über die Sprache, jüngst ist bei Haymon "Sprachwitze. Die Formen. Die Techniken. Die jüdischen Wurzeln. Mit mehr als 500 Beispielen" erschienen.

Zuerst das kürzere Wort, dann das längere.


Unlängst konnte ich auf "orf.at" unter der Überschrift "Digitale Bildung: Musterschüler Schweden" lesen, dass das Land bei der Bekämpfung der Pandemie in vielerlei Hinsicht einen eigenen Weg gegangen ist: "Schulen für Jüngere etwa blieben meist geöffnet, ältere Schüler und Schülerinnen waren schon zuvor gut mit Laptops und Co. vom Staat ausgestattet."

Während in der Online-Redaktion des ORF normalerweise der Grundsatz gilt, dass die weiblichen Personen, nämlich die Schülerinnen, zuerst genannt werden, haben in diesem Fall die männlichen Schüler den Vorzug bekommen. Zur Erinnerung: In den Gender-Leitfäden wird argumentiert, dass mit "Schüler" nicht auch die Schülerinnen gemeint sind, sondern lediglich die männlichen Personen.

Aber ich möchte in diesem Fall für den Verfasser der ORF-Meldung eine Lanze brechen. Er folgt dem natürlichen Sprachgebrauch. Auch viele Politiker tun es, sie nennen zuerst die Grundform und dann die mit einer Endung abgeleitete weibliche Form.

Zwillingsformen sind, falls sie ungleich lange Wörter enthalten, meist nach dem "Gesetz der wachsenden Glieder" geordnet, d.h. zuerst steht das kürzere, dann das längere Wort. Bei den folgenden Beispielen steht der Einsilber vor dem Zweisilber: Ross und Reiter, nach Lust und Laune, Nacht und Nebel, Wind und Wetter, Soll und Haben, in Bausch und Bogen, nach Strich und Faden, nach bestem Wissen und Gewissen usw.

Um Einwänden vorzubeugen: Es gibt auch andere Prinzipien, so wird beispielsweise das Wichtigere oder Wertvollere zuerst genannt: Hopfen und Malz verloren - das ist eine Anspielung auf den wichtigsten Bestandteil des Bieres; es wird auch als Hopfengetränk bezeichnet, nicht als Malzgetränk. Oder: jemanden durch Sonne und Mond schießen - niemand wird bezweifeln, dass die zweisilbige Sonne für uns Erdbewohner wichtiger ist als der einsilbige Mond. Oder: Die beiden sind wie Hund und Katze - der Hund gilt als der beste Freund des Menschen, da kann die zweisilbige Katze nicht mithalten.

Das "Gesetz der wachsenden Glieder" - gemeint sind Satzglieder, ein Schelm, wer eine Zweideutigkeit entdeckt - stammt von dem berühmten deutschen Linguisten Otto Behaghel. Es findet sich im letzten Band seines vierbändigen Werks "Deutsche Syntax: Eine geschichtliche Darstellung", erschienen Anfang der 1930er Jahre.

Otto Behaghel, er war Professor an den Universitäten Heidelberg, Basel und Gießen, entwickelte fünf Grundsätze für häufig zu beobachtende Regularitäten in der Sprache. Das Prinzip der wachsenden Glieder ist das vierte "Behaghelsche Gesetz". Es gilt übrigens nicht nur für das Deutsche, sondern auch für viele andere Sprachen.

Für Gender-Befürworter ist dieses Gesetz eine Hiobsbotschaft. Es zeigt, dass die Reihenfolge "Schülerinnen und Schüler" unserem Sprachgefühl widerspricht. Sie in der Alltagskommunikation durchzusetzen, wird nicht einfach sein. Auch der rhythmische Wohllaut, der beispielsweise bei "Damen und Herren" gegeben ist, fehlt. "Schülerinnen und Schüler" ist zwar die mildeste Gendermethode, aber sie holpert gewaltig. Dank Otto Behaghel wissen wir, warum das so ist.