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Die Moral und der Preis

Von Edwin Baumgartner

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"Wiener Zeitung"-Klassikexperte Edwin Baumgartner.

Wer Peter Handke sagt, muss auch Annie Ernaux sagen. Betreibt der eine Literaturnobelpreisträger Polytheismus, indem er sich und Slobodan Milošević anbetet, ist die andere Literaturnobelpreisträgerin eine Befürworterin der BDS, einer Bewegung, die den Staat Israel zumindest destabilisieren will, wenn sie ihm nicht gar die Existenzberechtigung abspricht.

Dennoch gab’s für Peter Handke den Literaturnobelpreis und für Annie Ernaux auch. Und nun diskutieren die Feuilletonisten ad feminam, ob das geht, das mit der Preisvergabe an die möglicherweise antisemitische, bestimmt aber antiisraelische Frau Ernaux.

In Wahrheit liegt das Problem anders. Es besteht in der Vermischung von Kunst und Moral. Große Kunst war immer nur in Ausnahmefällen moralisch.

Seit 1953, der Vergabe an Winston Churchill für literarisch wenig bemerkenswerte Memoiren, hat die Schwedische Akademie den Preis mit außerliterarischer Moral aufgeladen: nicht Bertolt Brecht (da SED-Parteigänger), nicht Jorge Luis Borges (da Befürworter des Militärputsches in Argentinien), aber Abdulrazak Gurnah, der für alles Woke steht, das einem in den Sinn kommt.

Und genau das geht nun wirklich nicht: den Preis einmal für Moral vergeben und ein anderes Mal für literarische Leistung. Denn dabei besteht die Gefahr der Verwechslung. Plötzlich erschiene dann Dario Fo als literarischer Gigant. Damit könnte man leben. Aber könnte man auch damit leben, dass es moralisch ist, Israel das Existenzrecht abzuerkennen?