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Plädoyer für eine neue Sachlichkeit in der Zuwanderungsfrage

Von Zoltan Peter

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Zoltan Peter ist Soziologe.
© privat

Im Diskurs über die sozialen Einstellungen der österreichischen Bevölkerung lauert sowohl in der Forschung als auch in den öffentlichen Debatten eine riskante und kaum zu rechtfertigende Einseitigkeit. Denn die Gesellschaft wird zu oft an den falschen Stellen getrennt und gruppiert. Anstatt über aufgeschlossene und unaufgeschlossene oder tolerante und intolerante Menschen zu reden, forscht und debattiert man unentwegt über Menschen mit und ohne Migrationshintergrund. Damit bedient man sich einer Rhetorik, die am Wesentlichsten vorbeigeht.

Die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung orientiert sich an dieser Klassifizierung; einer Gliederung akademischen Ursprungs, die diese überaus weltoffene Mehrheit meistens dazu veranlasst, auf die alteingesessene Bevölkerung einen kritischen und auf die Zuwanderer einen schonenden Blick werfen zu müssen. Diese selektive Vorgangsweise ist immer dann sehr auffallend, wenn es beispielsweise um den Rassismus in Österreich geht.

Eingehende Forschung und kritische Diskussion gibt es zu diesen Themen sehr viel, aber sie betreffen die Zuwanderer in der Relation selten. Wir wissen über die Zuwanderer diesbezüglich einfach zu wenig. Diese Einseitigkeit in diesem aktuellen Thema ist offensichtlich einer der Gründe, die immer mehr Menschen an der Glaubwürdigkeit etablierter Diskurse überhaupt zweifeln lassen. Diese hauptsächlich auf der bestimmenden Seite der Diskurslandschaft seit etwa 30 Jahren allgegenwärtige postmodernistische, das heißt die Prinzipien der Aufklärung aufweichende Umgangsweise mit der Gesellschaft und ihren Mitgliedern ist in Österreich sowie in Deutschland etwas stärker ausgeprägt als in den anderen Ländern Europas.

NS-Zeit als Bürde im Diskurs

Diese geradezu automatisiert vor sich gehende, aber an sich gut gemeinte selektive Umgangsweise mit der Bevölkerung hängt wohl signifikant mit der nationalsozialistischen Vergangenheit der beiden Länder zusammen - und folglich mit dem Verlauf der Vergangenheitsbewältigung, die in den vergangenen Jahrzehnten einen asymmetrischen Gesellschaftsdiskurs entstehen ließ. Denn jahrzehntelang hatte man eine deutschsprachige Bevölkerung vor Augen, von der man annahm, dass sie unentwegt erhöhter Aufmerksamkeit bedürfe. Man konzentrierte sich, wohlgemerkt zu Recht, ausschließlich auf die eigene Vergangenheit und setzte sich mit der migrantischen Bevölkerung kaum auseinander. Man setzte höchstens voraus, dass die Migration für ihre Entfaltung und Integration bloß Mitgefühl und keine kritische Aufmerksamkeit brauchte.

Speziell in Österreich entstand eine Art Thomas-Bernhard-Syndrom. Eine bemerkenswerte Nabelschau der eigenen Kultur, die sicherlich ein Gut ist, wovon es vielerorts leider zu wenig gibt. Aber zugleich stellt sie einen Mangel des österreichischen Homo Academicus dar, da er eine gewisse Scheu zu besitzen scheint, die ihn in daran hindert, anderen Kulturen gegenüber etwas sachlicher zu sein.

Integration in der Zukunft

Die Erinnerungskultur hat im deutschsprachigen Raum durchaus Beachtliches erreicht, keine Frage. Sie scheint aber wegen ihres bisherigen national ausgerichteten Vorgehens etwas überholt zu sein. Es ist naheliegend, dass heute deutlich mehr Ansätze weltumspannender Reichweite benötigt werden als noch vor 30 Jahren. Derzeit ist eine neue Sachlichkeit gefragt, die sich für die Aufdeckung von Ungerechtigkeiten interessiert, die universellen Charakter haben.

Österreich und Deutschland sind in Migrationsfragen Ausnahmeerscheinungen geworden. Die Integration in die österreichische Gesellschaft ist einfach und kompliziert zugleich. Einfach, weil bewährte Strukturen vorhanden sind, deren bloße Inanspruchnahme die meisten Menschen sichtlich voranbringt; und kompliziert, weil diese kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Strukturen von allen hohe und systemkonforme Kompetenzen abverlangen. Kompetenzen wie zum Beispiel Selbstverantwortung oder Leistungsorientierung, auch Respekt und Toleranz, die erst im System der pluralistischen Gesellschaften zu erwerben sind. Und das dauert seine Zeit.

Eine österreichische Identität

Die in den vergangenen 70 Jahren vergleichsweise gründlich vollzogene Vergangenheitsbewältigung und die erzielte Demokratie haben ein erhebliches humanistisches Bewusstsein entstehen lassen, das mittlerweile überall, auch in der Mitte der Gesellschaft, manifest ist. Es gibt bereits eine österreichische Identität, die weder religiösen Fanatismus noch rassistische Einstellungen duldet.

Lautstark und voller Überzeugung ist diese Identität jedoch nur in Bezug auf die Einstellungen der Einheimischen. Sie ist noch nicht einheitlich. Aber es gibt bereits einen grundsätzlich nach mehr Sachlichkeit strebenden "neuen" Menschen; einen, der nicht mehr darauf schaut, ob das Respektlose aus der eigenen Reihe oder von den Zuwanderern herrührt. Er ist einer, der die von der Mehrheit vorzugsweise vertretene unbegrenzte oder falsch verstandene Toleranz hinter sich gelassen hat. Er ist einzig und allein daran interessiert, ob es irgendwo auf der Welt Menschenverachtendes gibt.

Nicht die Politik, sondern solche Menschen, von denen es in der Mitte der Gesellschaft immer mehr gibt, werden entscheiden, ob und wie die Integration von Einzelnen verlaufen wird. Ob und wen sie in die Mitte der Gesellschaft lassen.

Gemeinsam mit Ina Wilczewska hat Zoltan Peter soeben am Institut für Soziologie der Universität Wien eine Fallstudie zu einem Wiener Gymnasium im Hinblick auf Toleranz, Fundamentalismus und Vorurteile durchgeführt, bei der 85 Schüler und Schülerinnen im Alter von 16 bis 19 Jahren befragt wurden. Die Kurzfassung der Endergebnisse ist unter dem Titel "Toleranz- und Fundamentalismuskompass eines Gymnasiums" im Internet zugänglich. Die Publikation des Endberichts folgt demnächst.
Mehr dazu: http://www.academia.edu/19342420/Toleranz-_und_Fundamentalismuskompass_eines_Gymnasiums