Wenn es den einen, allumfassenden Begriff gibt, der das politische Gefühl des letzten Jahrzehnts auf den Punkt zu bringen vermag, dann muss es "Stillstand" sein. Nicht, dass sich Österreich nicht verändert hätte, im Gegenteil: Die multiplen Krisen, die Europa erfassten, schüttelten auch Österreich durch. Und zu diesen gesellte sich noch jener ganz normale Veränderungsdruck, der uns alle am Arbeitsplatz und im Privatleben auf Trab hält.

Konträr zu diesem permanenten Anpassungsdruck erlebte das Land eine Politik, die scheinbar regungslos verharrte. Über Veränderungen zum Besseren/Einfacheren/Sinnvolleren (um den Fetisch Reform einmal zu vermeiden) wurde zwar nonstop geredet und gestritten. Nur umgesetzt wurde viel zu wenig. Und wenn doch, scheiterten die Regierenden an der Botschaft.
Man kann die Geschichte der vergangenen zehn Jahre aber auch als rastloses Kommen und Gehen erzählen. Seit den Nationalratswahlen 2006 gab es - inklusive Christian Kern - neun Wechsel allein in den Ämtern Kanzler, Vize und Obleute der Koalitionsparteien. Rechnet man sämtliche Rochaden auf der Ebene von Ministern und Staatssekretären hinzu, kommt man locker in den niedrigen zweistelligen Bereich. Dagegen war das Italien der 70er und 80er Jahre geradezu ein Hort von Stabilität und personeller Kontinuität.
Das Gefühl atemlosen Stillstands, des ewig Gleichen mit wechselnden Personen, hat auch dem laufenden Präsidentschaftswahlkampf den Stempel aufgedrückt. Nur vor diesem Hintergrund war es vorstellbar, dass sich die Kandidaten in verschiedene Posen eines Über-Regierungschefs werfen konnten, ohne sich lächerlich zu machen: Wenn sonst niemand eine Richtung vorgeben will (oder dazu schlicht nicht imstande ist), lassen sich engagierte Wahlkämpfer nicht zweimal bitten, das Nichts an politischer Führung gleich mit der Fantasie vom Bundespräsidenten als Über-Kanzler zu füllen.
Eine Ahnung davon, wie schnell sich die politischen Grundlagen für solche Träumereien - nicht die verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Staatsoberhaupts - in Luft auflösen könnten, hat der erste Auftritt des neuen Kanzlers vermittelt. Einer zum Regieren entschlossenen Regierung kann ein Bundespräsident zweifellos etliche Scheite zwischen die Beine werfen, dauerhaft verhindern kann er deren Arbeit nicht. Zumindest dann nicht, wenn hinter dieser Regierung auch eine Mehrheit des Nationalrats
steht.
Allerdings, und das hat das Zeug zum historischen Treppenwitz, sollte die Sache mit Rot-Schwarz unter Kern gut ausgehen: Es brauchte schon Heinz Fischer in der Rolle des Bundespräsidenten, der die Türen zu dieser Chance aufstieß, indem er Kern zum Bundeskanzler ernannte.
Ausgerechnet der scheidende Heinz Fischer hat mit seinem Verhalten womöglich die Ära jenes präsidialen Regierens eröffnet, von dem in den letzten Wochen alle so aufgeregt geredet haben. Und das ist eigentlich so lange kein Problem, solange damit Probleme gelöst werden und keine neuen geschaffen. Schließlich ist es genau das, wofür das Amt des Bundespräsidenten seine Machtbefugnisse hat.