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Übertreibungen ins Unerträgliche

Von Walter Hämmerle

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In einem der erfolgreichsten Länder der Welt will niemand den Status quo. Lauter Erneuerer, wohin das Auge blickt.


Es gibt weiß Gott schlechtere Länder als Österreich. Und höchstens eine Handvoll Staaten, die - das Ganze im Auge - besser oder zumindest gleich gut funktionieren. Das hält die Politik und Medien nicht davon ab, darüber zu diskutieren, was wir unbedingt bewahren sollten, sondern ausschließlich darüber, was sich bitte schleunigst zu ändern hat.

Und es gibt auch unter allen kandidierenden Parteien keine Kraft, die bereit wäre, für das Bestehende, quasi den Istzustand der Republik, die Verantwortung zu übernehmen. Im Gegenteil: Alle wollen sie das Neue, die verändernde Kraft für sich in Anspruch nehmen. Bei der Opposition, also bei FPÖ, Grünen, Neos mag das ja noch einleuchten. Bei SPÖ und ÖVP, die ausnahmslos alle Kanzler nach 1945 stellten, klingt die revolutionäre Rhetorik dagegen schon einigermaßen seltsam. Weder Christian Kern noch Sebastian Kurz stellen sich in diese Tradition, sondern verweisen darauf, dass sie ja erst "seit 14 Monaten" beziehungsweise "acht Wochen" in der Verantwortung stehen.

Sinn hat das Ganze natürlich trotzdem. Ein Politiker, der am 15. Oktober mit einem "Weiter so" vor die Wähler treten sollte, würde wohl mit nassen Fetzen von der Bühne geprügelt werden. Bildhaft gesprochen. Die Bürger wollen alles Mögliche und dessen Gegenteil noch dazu, aber ganz sicher nicht noch einmal dasselbe. Das ist natürlich eine legitime Position und im Einzelfall sogar verständlich. In ihrer überwältigenden Wucht wirft diese Haltung allerdings mehr Fragen auf, als sich durch die Wirklichkeit Antworten finden lassen.

Neben der fortgesetzten Selbstbeschädigungsarbeit, die sich hierzulande Tagespolitik nennt und seinem medialen Echoraum, haben dieses Feld vor allem die zahllosen Abrechnungen mit diesem Land durch seine Intellektuellen aufbereitet.

"Österreich ist eine demokratische Republik, in der die Mehrheit nicht weiß, was Demokratie bedeutet", hat der Europadenker und Schriftsteller Robert Menasse einmal gemeint. Das ist ein wunderbares Bonmot, als harte politische Analyse ufert der Satz jedoch ins Grundsätzliche aus, die - wortwörtlich genommen - nicht ohne Konsequenzen bleiben könnte.

Übertreibung ist seit jeher ein literarisch-journalistisches Stilmittel, der Gegenwart durch ihre Steigerung ins imaginierte Unerträgliche dramatische Größe anzudichten. Das reiht sich nahtlos in die grandiosen Österreich-Beschimpfungen eines Thomas Bernhard und einer Elfriede Jelinek. Daraus lässt sich selbstverständlich nicht nur kultureller Lustgewinn, sondern, auf einer höheren Ebene allerdings, auch ein politischer Erkenntnisgewinn erlangen. Nur eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit, die findet sich hier eben nicht.

Dass Literatur mit diesem Werkzeug verfährt, ist ihr gutes Recht. Etwas anderes ist es, wenn die biedere Politik auf diesen Zug aufspringt und alle anderen munter mitmachen. In diesem Land gibt es genug zu reparieren. Sogar über die Notwendigkeit eines Neubaus könnte man trefflich streiten. Allerdings sicher nicht, weil die Gegenwart unerträglich geworden wäre. Das wäre nämlich Literatur. Am 15. Oktober geht es allerdings um Politik.