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Moral und Politik in der Demokratie

Von Walter Hämmerle

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Die Arbeit an einer perfekten Gesellschaft sollen Philosophen und Aktivisten leisten. Gewählte Politiker haben einen anderen Job.


Es spricht nichts dagegen, in Gedanken einem großen Traum nachzujagen. Gerne auch von einer besseren Gesellschaft. Das Nachdenken über die perfekte soziale, politische und wirtschaftliche Ordnung zählt zum Kerngeschäft der Philosophen. Kritisch wird es immer nur dann, wenn sich Politiker an den Bau einer neuen Welt machen. Im Namen einer höheren Moral müssen dann meistens einige Andersdenkende über die Klinge springen.

Das ist natürlich kein Plädoyer für unmoralische Politiker. Im Gegenteil: Ohne einen intakten inneren Kompass an Werten und Haltungen geht man in der Politik wie auch im wirklichen Leben schnell verloren. Bei Politikern jedoch, die all ihr Tun und Lassen mit einem höheren Ziel rechtfertigen, dem sie auf diese Weise ein Stückchen näher kommen wollen, ist begründete Skepsis angebracht.

Wer "die Welt retten" will, sollte deshalb nicht Politiker werden, und auch nicht, wer alle Grenzen niederreißen will. Das sind Erlösungsfantasien, die sich nicht mit den beschränkten Handlungsaufträgen unserer kleinteiligen Demokratie vereinbaren lassen. Und das ist, gemessen an dem Unglück, das Größenwahn gekoppelt mit Übermoral anzurichten imstande ist, auch ganz gut so.

Das klingt jetzt vielleicht seltsam, aber in unserer völlig unübersichtlich gewordenen Welt geht es für die Politik schon lange nicht mehr darum, eine ideale Welt zu erreichten. Worauf sich stattdessen die Mächtigen auf Zeit konzentrieren sollten, ist es, praktikable Lösungen zu finden.

"Piecemeal social engineering", oder stückweise angewandte Sozialwissenschaft hat diese Aufgabenstellung und Selbstbeschränkung Karl Popper genannt, der große Skeptiker. Und das schon 1945, also unter dem unmittelbaren Eindruck, wohin der Wahn führen kann, einen neuen Menschen zu bauen. Stattdessen plädierte Popper dafür, sich auf einzelne Teilbereiche und Probleme zu konzentrieren und an Lösungen zu arbeiten. Mit ein bisschen Glück und viel Mühe ergeben diese Einzelschritte eine deutlich lebensfreundlichere Umgebung als eine von oben herab geplante und nach abstrakten Prinzipien gebaute Gesellschaftsordnung. Das ist heute so wahr wie vor 72 Jahren.

Mit Politikern, die sich als biedere und pragmatische Handwerker der Macht präsentieren, lassen sich allerdings höchstens in Ausnahmefällen allgemeine Wahlen gewinnen. Da wollen die Menschen nämlich immer noch mitgerissen werden von einem politischen Traum, der ihnen ein besseres Leben und Gerechtigkeit hier auf Erden verspricht. Die Wirklichkeit ist dann für die Politiker beinharte Knochenarbeit auf hundert Baustellen.

Diesen Spagat muss jede Demokratie irgendwie bewältigen, auch in Österreich: Den Menschen deutlich machen, dass ihre Stimme einen Unterschied ausmachen kann und es eben nicht gleichgültig ist, welche Partei sie wählen. Und trotzdem akzeptieren, dass Veränderung in der Regel allenfalls in kleinen Dosen möglich ist. Demokratie ist ein evolutionärer Prozess, kein Auftrag zum Sturz eines gewachsenen Systems. Schließlich gibt es da immer auch noch die "Verlierer" einer Wahl und ihre Interessen.