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Ein Hoch der Gstettn

Von Matthias Winterer

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Matthias Winterer
© Thomas Seifert

Moderne Stadtviertel haben die Unart, von vorne bis hinten durchgeplant zu sein. Doch der Mensch braucht auch die vermeintlich sinnlose Gstettn.


St. Marx. Neben der Redaktion der "Wiener Zeitung" liegt ein Juwel. Zwischen Bürogebäuden, sterilen Wohnblöcken, Baustellen schlängelt sich ein schmaler Streifen Gehölz. Er ist weniger Wald, als Wäldchen. Schmächtige Birken, ein paar niedrige Eichen, Haselnusssträucher, kniehohe Gräser. Der Wiener sagt Gstettn. Auf dem Boden wimmelt es von Käfern und Eidechsen. Krächzende Krähen hocken auf modrigen Ästen. Zwischen den Baumstämmen treffen sich Streunerkatzen.

Die vielleicht 300 Meter lange, oft nur 20 Meter breite Fläche ist erstaunlich naturbelassen. Hier wächst, was Lust hat zu wachsen. Hier kreucht, was Lust hat zu kreuchen. Kein Gärtner, der die Büsche zu geometrischen Formen stutzt. Kein Landschaftsplaner, der ihr ein ausgeklügeltes Wegesystem aufzwingt. Ein bescheidener Trampelpfad durchkreuzt die Brache. Und das bleibt auch so. Die Stadt Wien hat sie zur sogenannten "Stadtwildnis" erklärt – wie ein Metallschild verkündet.

Die Stadt braucht Orte wie diesen. Kein Park, kein Spielplatz, kein Blumenbeet kann sie ersetzen. Sie sind schützenswerte Refugien in einer funktionalisierten Welt. Moderne Städte haben die Unart, von vorne bis hinten durchgetaktet zu sein. Jede Fläche wird an eine bestimmte Nutzung gebunden. Auf der Picknickwiese wird gepicknickt. Auf dem Spielplatz gespielt. Auf dem Fußballfeld gekickt. In den großen Stadtentwicklungsgebieten im Sonnwendviertel oder der Seestadt Aspern, ist jeder Quadratmillimeter durchgeplant. Aber Freiräume kann man nicht planen.

Plätze, auf denen Menschen experimentieren, die sie sich aneignen können, sind für eine hohe urbane Lebensqualität essentiell. Der Mensch braucht Plätze, auf denen er nicht kontrolliert und überwacht wird. Ihm diese Plätze zuzugestehen braucht Mut. Fragen zur Sicherheit und Haftung schränken die Möglichkeit ein, Räume offen zu lassen. Gerade in einer wachsenden Stadt wird es außerdem massive Widerstände gegen wild wuchernde Gstettn geben. Die Architekten der Investoren sitzen schon mit gespitzten Bleistiften über den Bebauungsplänen.

Auf den Gründen des ehemaligen Schlachthofs St. Marx schießen Neubauten aus dem Boden. Plakatwände werben mit Renderings einer gestriegelten Wohngegend. Aus den Büroräumen der Redaktion kann man die rasante Veränderung beobachten. Wo gestern noch Kinder mit Fahrräder über Erdhügel sprangen, steht heute ein sechsstöckiger Rohbau.

Schon klar. Wien wächst. Die Stadt braucht nichts dringender als Wohnraum. Aber sie braucht auch die Gstettn. Sie braucht die vermeintlich nutzlosen Orte. Auf denen man Indianer spielen, Holzhütten bauen und heimlich Zigaretten rauchen kann.