Zum Hauptinhalt springen

Ein Blick in die österreichische Seele

Von Tamara Arthofer

Kommentare
Tamara Arthofer
Tamara Arthofer leitet das Sportressort der "Wiener Zeitung".

#Skitoo und Co.: Die Notwendigkeit, Heldenbilder zu hinterfragen, verjährt nicht.


Jetzt also auch Charly Kahr. Drei Monate nach Bekanntwerden der Vorwürfe sexuellen Missbrauchs im Skisport durch Nicola Werdenigg (und eine andere Athletin) in den Siebzigern, kurz nach den Berichten über - auch durch Interventionen höchstrangiger Politiker - nie aufgeklärte Vergewaltigungsvorwürfe einer polnischen Prostituierten gegen Toni Sailer im Jahr 1974 und einen Tag vor der Olympia-Eröffnung erschütterten neue Meldungen über den früheren ÖSV-Trainer Kahr die Öffentlichkeit. Die "Süddeutsche Zeitung" beruft sich in ihrem Bericht auf eidesstattliche Erklärungen von zwei Ex-Fahrerinnen, die Kahr unter anderem eine Vergewaltigung in der Saison 1968/69 beziehungsweise einen Versuch im Winter 1976 vorwerfen. Der einstige Star-Trainer, mittlerweile 85 Jahre alt, bestreitet die Vorwürfe in der "Kleinen Zeitung"; sein Anwalt Manfred Ainedter, bekannt unter anderem als Rechtsbeistand Karl-Heinz Grassers, spricht von "glatter Verleumdung". Es gilt die Unschuldsvermutung.

Doch völlig unabhängig von Schuld oder Unschuld in diesen Fällen, deren Aufarbeitung kaum noch möglich ist; völlig unabhängig, ob man in der von Hollywood ausgehenden #Metoo-Debatte (die die "SZ" zu dem Titel #Skitoo inspirierte) auch negative Begleiterscheinungen erkennen will: Dass der Sport nicht vor sexualisierter Gewalt gefeit ist, sollte längst nicht mehr überraschen. Abhängigkeiten, Machtausübung, hierarchische Strukturen, die sich weitgehend von der Öffentlichkeit abschotten - und die es freilich auch in anderen Institutionen gibt - , sind geeignet, eine unselige Allianz mit der Körperlichkeit einzugehen, die ihm immanent ist. Was aber sehr wohl vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels überrascht, ist die Heftigkeit so mancher Reaktionen. Sie reichen bis zum Vorwurf, die betroffenen Frauen würden mit ihren Aussagen wahlweise dem Skisport/dem Wintertourismus/dem österreichischen Olympia-Team schaden und ungerechtfertigterweise "Ikonen anpatzen". Das beantwortet zum einen die gerne gestellte Frage "Warum erst jetzt?", zum anderen lässt es tief in die österreichische Seele blicken - und es zeigt, dass auch das (eher nicht so gute) Argument, wonach das "halt damals so war", in diesem Fall nicht greift. Denn wenngleich sich vieles getan hat: Die reflexhafte Abwehrhaltung, die unter anderem ÖSV-Chef Peter Schröcksnadel zunächst eingenommen hat, die beschwichtigenden bis verharmlosenden Kommentare, sobald es um (Ski-)Ikonen geht, haben sich seit den Siebzigern lediglich in ihrer Tonalität geändert - das Selbstverständnis, das in ihnen zum Ausdruck kommt, ist aber immer noch dasselbe. Österreich, das ist eine Ski-Nation, die Generation Sailer/Kahr wesentlich für die Identitätsbildung in der Nachkriegszeit. Und weil eben nicht sein soll, was nicht sein darf, sind die Protagonisten offenbar sakrosankt. Dabei geht es gar nicht um sie, jedenfalls nicht um sie alleine, sondern um ein System, das Missbrauch begünstigt. Eine Gesellschaft, die für sich in Anspruch nimmt, aufgeklärt zu sein, hat die Verpflichtung, auch dort hinzusehen, wo es wehtut, um ihre Schlüsse zu ziehen. Dazu braucht es erst einmal die Bereitschaft, die eigenen Heldenbilder zu hinterfragen. Und das gilt für heute nicht weniger als für damals.