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Zum Schaden des Spiels

Von Simon Rosner

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Der Videoreferee erzeugt nur eine oberflächliche Form von Gerechtigkeit.


Da haben sich die bedeutendsten Denker schon vor Jahrtausenden mit Gerechtigkeitstheorien beschäftigt. Und vor gut 60 Jahren versuchte es dann auch Hans Kelsen, Vater der Bundesverfassung. Aber vergebens: "Meine Entschuldigung ist, dass ich in dieser Hinsicht in bester Gesellschaft bin. Es wäre mehr als anmaßend, meine Leser glauben zu machen, mir könnte gelingen, was die größten Denker verfehlt haben", schrieb Kelsen in seinem Essay "Was ist Gerechtigkeit?".

Schade, dass all diese Denker von Platon bis Kelsen nicht mehr erleben durften, dass die Fifa nun endlich eine Antwort gefunden hat: der Videobeweis, kurz VAR. Er mache, so erklärt es der Weltverband, hört man es von Schiedsrichtern und Fans, "den Fußball gerechter".

Was stimmt: Es wurden bei dieser WM nachträglich Elfer verhängt, die der Schiedsrichter auf dem Feld nicht gesehen hatte. Allerdings wurden auch, etwa bei England gegen Tunesien, klare Penaltys trotz VAR nicht gegeben. Oder bei Brasilien gegen die Schweiz das Foul beim 1:1 nicht sanktioniert. Das irritiert, weil: Warum einmal so und dann so?

Doch abgesehen davon stellt sich die Frage, ob der Fußball durch den Einsatz von Videozeitlupen tatsächlich gerechter und fairer wird.

Erstens, es gibt da ein technisches Problem. Verlangsamte Nahaufnahmen bieten zwar Gewissheit darüber, ob es einen Kontakt gab. Doch eine Berührung ist eben noch lange kein Foul, auch wenn das einige TV-Kommentatoren, Fans sowie Brasiliens Neymar offenbar glauben.

Die Zeitlupe bietet oftmals keine valide Aussage über Ursache und Wirkung einer Berührung, doch das ist für die Entscheidungsfindung wesentlich. Anzunehmen ist daher, dass es künftig mehr Strafstöße geben wird. Die Wirkmächtigkeit der TV-Bilder ist groß, nicht viele Referees werden bei einem klar dokumentierten Kontakt kein Foul geben.

Genau das aber wird auch Auswirkungen auf die Fallsucht der Spieler haben, die ja sehr lernfähig sind. Wird der Fußball also wirklich gerechter, wenn nun die Zahl der herausgeschundenen Elfer steigt?

Hier wird klar, dass die Befürworter des VAR einem sehr oberflächlichen und formalistischen Verständnis von Gerechtigkeit anhängen. Foul ist Foul, so steht es im Regelbuch. Diese Sichtweise wird dem Fußball aber nicht gerecht, der immer auch ein Spiel der Finten und List war. Deshalb kann der Kleine gegen den Großen immer wieder reüssieren. So war es auch beim Stößerl des Schweizers Zuber gegen Miranda. Clever, aber eigentlich ein Foul und hätte geahndet gehört. Aber es ist eben auch Teil des Fußballs. Und war das Remis der Schweizer nach dieser Leistung etwa nicht gerecht?

Über die Gerechtigkeit kann uns der Fußball viel erzählen. Und er lehrt auch, das Gegenteil zu ertragen. Etwa wenn ein heroischer Kampf des Außenseiters in der 93. Minute doch verloren wird. Weil die Kondition nicht mehr reichte; weil der Verteidiger, der so großartig spielte, eine Zehntel zu spät kam; weil der Stürmer des arroganten Favoriten die leichte Berührung vernahm und in den Strafraum segelte; und weil der Referee im Video diese Berührung sah. So zu verlieren, ist schlimm. Mein Gott, dieser Unglücksrabe! Oder ist das jetzt, wo es VAR gibt, doch fair und gerecht?