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Der englische Patient

Von Tamara Arthofer

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Während auf den Straßen gefeiert wird, versuchen Politiker jeglicher Couleur, den Fußball zu instrumentalisieren.


Eine Insel steht kopf, zumindest ein Teil davon. Erstmals seit 1990 steht England im Halbfinale einer WM, erstmals seit 1966, als man auch den Titel holte, könnte das Finale erreicht werden. In England, seinem Selbstverständnis nach das Mutterland des Fußballs, das aber seither stets auch an den eigenen Ansprüchen gescheitert ist, träumen sie vom ganz großen Coup. Wenn schon seit dem Achtelfinalkrimi gegen Kolumbien die Geschichte umerzählt werden muss, wonach die Three Lions sich nie mehr in einem Elfmeterschießen durchbeißen würden und über keine (wenn auch körperlich kleinen) großen Tormänner verfüge, ist schließlich alles möglich. Es soll schon Unwahrscheinlicheres gegeben haben bei dieser WM. Der Hyde Park wird beim Public Viewing - Pardon - Public Screening (das bei uns gebräuchlichere Wort bezeichnet im Englischen die Zurschaustellung eines Leichnams) aus allen Nähten platzen, die 30.000 Tickets dafür waren schwieriger zu ergattern als Karten für die Spiele in Russland selbst. Edelfans wie Robbie Williams sind aus dem Häuschen, bei anderen gehen die Namen der Spieler buchstäblich unter die Haut - als Tätowierungen. Prinz William tut, was er für gewöhnlich nicht tut, und twittert der Mannschaft seine Gratulationen zu, auf den Straßen wird eine Textzeile von Atomic Kittens "Whole Again" umgedichtet und Teamchef Gareth Southgate als "the one" bezeichnet, alternativ tönt es überall "Football’s coming home" - die Hymne der EM von 1996. "Das WM-Fieber hat London und die ganze Nation gepackt", sagte Londons Bürgermeister Sadiq Khan. Doch die Nation ist derzeit so zerrissen wie selten zuvor. Die Euphorie rund um das Fußball-Team steht in diametralem Gegensatz zum düsteren Bild, das Großbritannien - das nur bei Olympia ein gemeinsames Team stellt und ansonsten in die Verbände Englands, Wales’, Schottlands und Nordirlands aufgesplittert ist - derzeit abgibt. Die beiden Letzteren haben bekanntlich eine völlig andere Haltung zur EU und einem Austritt Großbritanniens. Doch selbst in London herrscht Uneinigkeit. Erst am Montag musste Premierministerin Theresa May die Rücktritte von Außenminister Boris Johnson und Brexit-Minister David Davis hinnehmen - der von ihr präferierte Soft Brexit gebe der EU zu viele Zugeständnisse. Das Chaos ist auch ein aufgelegter Elfmeter für Satire-Plattformen, die etwa davon schreiben, dass England seine Kicker vor dem möglichen Finale heim beordern wolle, damit diese nur ja nicht mit überzeugten Europäern anderer Teams in Kontakt kämen. Dabei ist die Lage ernst, Mays Regierung wackelt gehörig. Da ist es nicht verwunderlich, dass Politiker jeglicher Couleur versuchen, den Fußball zu instrumentalisieren. Ein Erfolg wäre freilich so oder so Balsam auf die Seele des englischen Patienten. Die Bilder einer jubelnden May auf der Tribüne bei einem möglichen WM-Triumph hätten (zumindest kurzfristig) Symbolkraft. Geben wird es sie nie. Die Regierungsmitglieder haben bereits angekündigt, aufgrund der Spannungen mit Russland nach der Nowitschok-Affäre nicht anzureisen. Ausgerechnet bei der möglicherweise größten (Fußball-)Party der vergangenen Jahrzehnte könnte das offizielle England also allein zu Hause bleiben. Und dem großen Rausch der Kater folgen.