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Mit offenem Visier

Von Walter Hämmerle

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© badahos/stock.adobe.com

Über das Streiten, oder: Warum die politischen Outlaws besser in den Parlamenten rebellieren als auf der Straße.


Hans Kelsen nennt es Repräsentationsfiktion. Nämlich die Idee, dass die freien Abgeordneten eines Parlaments verbindliche Entscheidungen an Stelle des und für das gesamte Volk treffen können. Der Vater der radikal parlamentarischen Bundesverfassung von 1920 formulierte den Gedanken 1929 so: "Indem die Repräsentationsfiktion glauben machte, dass die große Masse des Volkes sich in dem gewählten Parlamente politisch selbst bestimme, hat sie eine exzessive Überspannung der demokratischen Idee in der politischen Wirklichkeit verhindert."

Verhindert wird die "exzessive Überspannung" dadurch, dass eben nicht das Volk direkt entscheidet, sondern gewählte Abgeordnete an seiner Stelle. Diese mittelbare Demokratie, so jedenfalls die Hoffnung, reduziert die Emotionen und steigert die vernunftbasierte Grundierung der politischen Debatten.

All dies auch deshalb, weil der durchschnittliche Mandatar demoskopisch eben nicht dem Durchschnitt der Bevölkerung entspricht, weder in Sachen Geschlecht, Alter, Bildung oder sozialer Herkunft und Stellung. Unter ähnlichen Männern ähnlichen Stands lässt sich leichter diskutieren und Kompromisse schließen. Für die Gegenwart ist das aber doch zu viel an Gleichförmigkeit. Parlamente sollen - oder sollten - heute alle relevanten Bevölkerungsgruppen angemessen repräsentieren. Deshalb die Debatten über zu wenige Frauen, Junge und Vertreter von Minderheiten aller Art. Eine Fiktion bleibt die Repräsentation der Bürger durch ihre Abgeordneten trotzdem.

Sperrklauseln sind ebenfalls ein Mittel zum Zweck, eine "exzessive Überspannung der demokratischen Idee" in der parlamentarischen Wirklichkeit zu verhindern. In Österreich liegt diese für den Nationalrat bei 4 Prozent, je nach Ebene und Wahlrecht gibt es hier aber Variationen. Für den Kärntner Landtag galt bis 2008 eine faktische Hürde von rund 10 Prozent; die Sperrklausel für das EU-Parlament pendelt zwischen 2 und 5 Prozent. Zweck einer Sperrklausel ist es, eine zu starke Zersplitterung der Parteienlandschaft zu unterbinden; die Parlamente sollen so arbeits- und mehrheitsfähig gehalten werden.

Bei den Nationalratswahlen 2017 waren deshalb fast 400.000 Stimmen oder 6,1 Prozent unwirksam. Bei der deutschen Bundestagswahl, wo die Hürde bei 5 Prozent liegt, waren es 2013 sogar fast 16 Prozent oder 6,9 Millionen Wähler (von 43 Millionen abgegebenen Stimmen). Damals scheiterten die FDP und die rechtspopulistische bis rechtsextreme AfD knapp.

Bei der FDP haben dies die meisten als schade empfunden. Eine liberale Stimme gehört für viele ins Parlament. Bei den Rechtspopulisten mit ihrem ausgeprägten Hang zum verbalen Radikalismus war die Erleichterung über den Nichteinzug 2013 allgegenwärtig. Es wäre als Niederlage der liberalen Demokratie empfunden worden, hätte man sich mit den Gegnern eben dieser Demokratie im Parlament auseinandersetzen müssen. Die etablierten Parteien bleiben stets lieber unter ihresgleichen.

Zu wenig Spannung istso schädlich wie zu viel

Vier Jahre später gelang der AfD der Sprung in den Bundestag, und zwar gleich als drittstärkste Kraft. Droht Deutschland nun eine "exzessive Überspannung der demokratischen Idee" - zumal die Partei in Umfragen bereits als zweitstärkste Kraft geführt wird? Gewissheit gibt es bei solchen Fragen nur im Rückblick, deshalb sollte man sich mit allzu selbstsicheren Antworten eher zurückhalten. Zu bedenken ist aber, dass Demokratien nicht nur an "exzessiven Überspannungen", sondern auch an einem Mangel an Spannung zugrunde gehen können. Etwa, wenn es Meinungen und Standpunkte erst gar nicht in die Parlamente hineinschaffen. Oder wenn Regierungen Entscheidungen als "alternativlos" darstellen. Demokratische Politik lebt allerdings davon, dass Alternativen aufgezeigt und diskutiert werden. Die Wähler müssen eine Wahl haben. Und wenn die etablierten Parteien in zentralen Fragen des Zusammenlebens das Streiten verlernen, öffnen sie politischen Raum für neue Konkurrenz.

In Österreich hat diese Entwicklung dazu geführt, dass die FPÖ mit ÖVP und SPÖ auf Augenhöhe ist. Die ewige große Koalition hat den beiden Traditionsparteien die Beinfreiheit genommen, ihr eigenes politisches Profil ständig nachzuschärfen. Stattdessen haben Rot und Schwarz zugelassen, dass es bis zur Unkenntlichkeit verwaschen wurde.

Im Zuge der allzu großen Übereinstimmung ging auch die Einsicht verloren, dass die Konfrontation mit anderen Meinungen, vor allem dann, wenn sie nicht nur unbequem sind, sondern auch gegen die eigenen moralischen Grundsätze verstoßen, dass also genau diese Konfrontation zur Grundausstattung einer Demokratie gehört. Diese Überzeugung wird allenfalls noch in Sonntagsreden gepredigt, aber nicht mehr aus Überzeugung politisch gelebt.

Spannend wäre ein Sonntagsredner, der sagen würde, dass ihm die Auseinandersetzung mit anderen Standpunkten, vor allem, wenn sie den eigenen in Ästhetik und Inhalt zuwiderlaufen, furchtbar auf die Nerven geht. Und dass es doch eigentlich viel schöner und wahrer auf der Welt zugehen würde, wenn doch die anderen endlich einsehen würden, dass sie ohnehin nicht recht haben. Nicht recht haben können. An dieser Stelle wird dann häufig ein Verweis auf Zwischenkriegszeit eingefügt, die bekanntlich zum nächsten großen Krieg führte.

Keine Demokratieohne Demokraten

Richtig ist, dass eine Demokratie ohne Demokraten zugrunde geht. Und die parlamentarische Demokratie benötigt Parlamentarier, um zu funktionieren. Was geschieht, wenn diese Voraussetzungen fehlen, das lässt sich tatsächlich an der Geschichte Mitteleuropas in der Zwischenkriegszeit nachvollziehen. Der Nationalsozialismus ist in Deutschland gemäß parlamentarischen Spielregeln an die Macht gekommen. Und in Österreich hat eine demokratisch legitimierte Regierung gegen das Parlament geputscht.

Aber sind die politischen Outlaws der Gegenwart - die deutsche AfD, die Lega, die Schwedendemokraten, die Trump-Republikaner, und ihre Kritiker stellen auch die FPÖ in diese Reihe - tatsächlich die Wiedergänger der Anti-Demokraten aus der Zwischenkriegszeit? Oder ist das nur eine Ausrede der Etablierten, ja eine Denunziation des politischen Gegners, um die mit Sicherheit schmerzhafte und schwierige politische Auseinandersetzung mit diesen nicht führen zu müssen?

Den Klagen über den Einzug der Tabubrecher in die Parlamente der liberalen Demokratien kann die Überzeugung entgegengehalten werden, dass diese Volksvertretungen so lange nicht repräsentativ sind, solange nicht alle relevanten politischen Standpunkte vertreten sind. So gesehen ist der Einzug von AfD & Co keine Niederlage, sondern eine Notwendigkeit. Denn das Parlament muss die zentrale Arena für die politische Auseinandersetzung sein, nicht die Straße. Die harte öffentliche Debatte mit offenem Visier von Angesicht zu Angesicht. Das ist der Kern der Repräsentationsfiktion unserer parlamentarischen Demokratie. Nur so können Parlamente im Namen ihrer Bürger Entscheidungen setzen.

Doch dafür ist zweierlei notwendig: Zum einen muss der Parlamentarismus seine bändigende Kraft entfalten, indem er die Aggressivität der Außenseiter in die geordneten Bahnen seiner Verfahren bannt. Und zum anderen müssen sich diese Outlaws auch einbinden lassen. Denn wie gesagt: Ohne Demokraten keine Demokratie.