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Rotes Chaos mit zwei Opfern

Von Walter Hämmerle

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Das Kommunikationsdesaster der SPÖ stellte den Journalismus vor ein Dilemma - Kerns "Read my lips"-Moment.


Mehr als 24 Stunden, nachdem Christian Kern seine Partei kopf- und entsprechend ratlos zurückgelassen hat, ist es geboten, die Ereignisse noch einmal Revue passieren zu lassen. Und zwar nachdenklich und durchaus selbstkritisch.

Das Gerücht vom bevorstehenden Rücktritt Kerns schreckte am frühen Dienstagnachmittag die politische und mediale Szene auf. Schnell machten Spekulationen die Runde auf den sozialen Medien. Allerdings erwiesen sich nicht alle als der Realität gewachsen.

Dazu hat zweifellos die Nicht-Kommunikation der SPÖ beigetragen, die den kolportierten Mutmaßungen gelähmt gegenüberstand. Und ein Gerücht und Vermutungen, die über Stunden von eigentlich professionellen Kommunikationsprofis ungesteuert wild wuchern gelassen werden, haben gute Chancen, für wahr gehalten zu werden. Andernfalls hätte man sie ja auch einfach dementieren beziehungsweise entsprechend korrigieren können.

Die SPÖ hat sich weder zum einen noch zum anderen in der Lage gesehen. Erst als Kern selbst gegen 18 Uhr vor die Kameras trat und seine Kandidatur für das EU-Parlament verkündete, gab es eine erste authentische Information. Da waren jedoch die Meldungen vom angeblichen Abgang des SPÖ-Vorsitzenden aus der Politik bereits seit Stunden draußen. Und sie waren eben maximal nur halbrichtig.

Der Instant-Online-Journalismus ist die von Technologie, Medien und Politik erschaffene Hölle auf Erden. Und die Nutzer an der Spitze der Kommunikationspyramide, die Multiplikatoren und Peer-Group-Leader, sind ganz begierig, als Allererste von allen Neuigkeiten zu erfahren. Die Logik der Geschwindigkeit ist dabei mit den Geboten von Check - Recheck - Doublecheck auf Kollisionskurs. Wer mit der Veröffentlichung eines Leaks wartet, bis sich die Fakten bestätigt haben, fällt aus dem Rennen um Clicks und Likes heraus.

Das ist ein für Qualitätsjournalismus nicht einfach auflösbares Dilemma. Weder hat es an Bemühungen zur Überprüfung des Faktengehalts gemangelt, noch ist Nicht-Berichterstattung eine vertretbare Option. Das wäre ja auch noch schöner! Und trotzdem bleibt ein schaler Nachgeschmack beim Rückblick auf die Stunden, die die SPÖ erschütterten.

Diese werden auch Kern selbst lange verfolgen. Wenn sie ihn denn überhaupt je wieder loslassen. Der medial geäußerte Verdacht eines vorzeitigen Abgangs aus der Politik begleitete den Noch-Vorsitzenden der SPÖ seit seiner Niederlage gegen Sebastian Kurz. Fast kein Interview, in dem diese Frage nicht gestellt worden wäre. Noch in den Tagen vor seinem chaotisch inszenierten Abgang auf Raten wies Kern mit starken Worten jede einschlägige Versuchung geradezu empört zurück. Obwohl er da bereits den Entschluss zum Absprung gefasst haben musste.

Richtig ist, dass kein Politiker, der seine sieben Sinne beisammen hat, offen und vor allem öffentlich über die Möglichkeit eines Jobwechsels redet. Er wäre ab sofort das, was die US-Amerikaner eine "lame duck" nennen. Und trotzdem ist ein Jobwechsel jederzeit ganz selbstverständlich eine reale Option. Das ist Politikern so klar wie allen Journalisten, die sie dazu immerfort löchern.

Woher aber sollen die Bürger wissen, auf welche Beteuerung Kerns sie künftig vertrauen können? Und welche mit Überzeugung vorgetragene Ansagen dagegen nur taktischer Not geschuldet sind?

Persönliche Glaubwürdigkeit ist - für Politiker wie Journalisten gleichermaßen - das höchste Gut. Kern ist, nach menschlichem Ermessen, gewiss kein unehrlicher Mann. Aber er hat es für politisch notwendig erachtet, in einer ganz bestimmten Frage wiederholt, mit Verve und Überzeugung nicht die Wahrheit zu sagen. Das ist politisch nachvollziehbar und bleibt dennoch ein nicht nur persönliches Dilemma. Es wird harte Arbeit, den Schaden zu beheben.