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Staat mit Eigenschaften

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Manche Staaten haben sich Heldengeschichten geschrieben, die von nationalem Mut erzählen; andere geben den Tragödien besonderen Stellenwert und betonen die Opfer und das Leiden; manchmal war dabei sehr viel Glück im Spiel und mindestens so oft einfach nur Pech; und wie viel die Menschen jeweils selbst zum einen oder anderen beitragen oder doch die Umstände den Lauf der Geschichte prägen, ist eine auf ewig offene Frage.

Die Republik Österreich, die am 12. November ihren 100. Geburtstag feiert, hatte von allem im Überfluss: Unglück und Glück, Schuld und Verdienst - und zur ungeteilten Freude der Gegenwart auch noch in der richtigen Reihenfolge, das heißt: Glück und Wohlstand fallen auf unser Ende dieser 100 Jahre.

Das mag Zufall sein, vielleicht aber doch auch die Summe all jener Paradoxien, die dieses Land quer durch seine Geschichte begleitet, ja mitunter sogar dominiert haben.

Das beginnt damit, wenn man denn den Herbst 1918 zum Ausgangspunkt nimmt, dass sich ausgerechnet jene Partei, welche die Revolution als Ziel auf ihre roten Fahnen geheftet hatte, also die Sozialdemokratie, in der Stunde, in der es darauf ankam, in den Dienst der evolutionären parlamentarischen Demokratie stellte. Später dann, Anfang der 1930er Jahre, als Rot und Schwarz bereits erbittert um die Macht im Staat rangen, konzentrierte sich die größtmögliche ideologische Distanz auf den kleinstmöglichen Raum: Der schwarze Ballhausplatz ist vom roten Rathaus nur durch einen Steinwurf getrennt.

Oder die Stärkung des Amts des Bundespräsidenten 1929, gegen die sich die SPÖ so entschieden wehrte und der sie dann doch zustimmte: Das eine Mal, als es tatsächlich einen starken Präsidenten gebraucht hätte - bei der Ausschaltung des Parlaments 1933 -, blieb der Amtsinhaber passiv. Und seit 1945 üben sich alle Staatsoberhäupter in ihrer Machtfülle der wiedereingesetzten Verfassung von 1929 in stoischem Machtverzicht.

Und wer kann sich darauf einen Reim machen, dass es nirgendwo sonst in der freien Welt nach 1945 mehr Parteimitglieder im Verhältnis zur Bevölkerung gab und wichtige Entscheidungen trotzdem nur von einigen Dutzend Personen getroffen wurden? Zu den typisch österreichischen Paradoxien zählt übrigens auch, dass Zuwanderung seit 30 Jahren eines der am heftigsten umkämpften Themen ist und Land und Leute - relativ betrachtet - trotzdem so viele fremde Menschen erfolgreich integriert haben wie kaum woanders.

Wir sollten diese Erfahrung mit Widersprüchen hochhalten. Vielleicht bietet genau diese Fähigkeit die beste Vorbereitung, die wir bekommen können, um die nächsten Schwierigkeiten zu bestehen.