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Appell für Großzügigkeit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Großzügigkeit ist keine leichte Übung. Am ehesten noch im Privaten, aber ganz sicher nicht in der Politik. Dieses ganz besondere Gefühl von Empathie existiert nur zwischen Menschen, in den Beziehungen zwischen Staaten oder anderen gesellschaftlich organisierten Akteuren bestimmen dagegen Interessen und Machtverhältnisse das Handeln.

Dabei ist jetzt der richtige Zeitpunkt für einen Akt der politischen Großzügigkeit. Jetzt, wo alle unklaren Machtfragen für jeden offensichtlich geklärt sind und niemand mehr bezweifelt, dass die EU-27 am längeren Hebel sitzen. Deshalb ist es ein Akt der Größe und Ausdruck höherer Vernunft, der tatsächlich aufopferungsvoll um eine Lösung kämpfenden britischen Premierministerin Theresa May Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.

Dabei kann es selbstredend nicht um eine Neuverhandlung des Brexit-Übereinkommens gehen; dieser Zug ist tatsächlich abgefahren. Aber ansonsten gibt es wenige Gründe, die dagegen sprechen, May durch politisch bindende Erläuterungen und darüber hinausgehende Vereinbarungen ein Aufbrechen der innenpolitischen Blockade auf der Insel zu ermöglichen.

Im Zentrum des Dilemmas steht der Status der künftigen Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem baldigen Ex-Mitglied Nordirland als Teil Großbritanniens. Einigen sich Brüssel und London nicht auf einen Handelsvertrag, greift laut Brexit-Vertrag spätestens 2023 die vereinbarte Notlösung, der "Backstop". Dieser sieht vor, dass das Vereinigte Königreich bis auf Weiteres in einer Zollunion mit der EU bleibt; und für Nordirland würden zudem Bestimmungen des EU-Binnenmarktes weiter gelten. Damit würde Nordirland de facto dauerhaft vom Rest Großbritanniens abgetrennt. Dieses Szenario ist für Freunde wie Gegner des Brexit inakzeptabel. Ein gangbarer Ausweg könnte darin bestehen, die unbegrenzte Geltungsdauer des "Backstop" zeitlich zu befristen.

Natürlich ist damit nichts gewonnen außer Zeit. Aber Zeit ist in der aktuell völlig verfahrenen Situation ein Gut von unschätzbarem Wert. Mehr Zeit würde es etwa ermöglichen, dass sich die politischen Kräfte in Großbritannien neu aufstellen. Vor allem aber würden London und Brüssel Zeit gewinnen, um ein umfassendes Freihandelsabkommen als Fundament der künftigen Beziehungen auszuhandeln.

Wer sich von diesen Argumenten für einen Akt politischer Großzügigkeit der EU-27 gegenüber London nicht überzeugen lassen will, sollte bedenken, dass eine Demütigung auf offener Bühne selten der Ausgangspunkt für eine gedeihliche Partnerschaft war. Und Partner der EU muss London bleiben. Das gebieten Geschichte, Geografie und die nackten Interessen aller Seiten.