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Verlust der Wahrheit

Von Walter Hämmerle

Leitartikel
Walter Hämmerle.
© Luiza Puiu

Die Aufregung um Robert Menasse und dessen Hinzufügungen zur Vergangenheit, um seinem politischen Anliegen eine höhere Legitimation zu verschaffen, fügt sich zu gut in die grassierende Verunsicherung, um als Einzelfall betrachtet zu werden. Denn dass ihre Ziele und Ideen von den Bürgern nicht mehr verstanden und deshalb nicht mehr gewählt werden, ist die große Angst der heutigen Politik.

Vor noch nicht langer Zeit besaßen politische Konzepte und ihre Schlussfolgerungen ganz selbstverständlich eine natürliche Logik, die in den Augen ihrer Anhänger keine besondere Rechtfertigung benötigte. Das ist vorbei. Längst schlendern die Bürger auch in Sachen Politik durch den Supermarkt der Angebote, wo alle Parteien und Ideen um Aufmerksamkeit und Vertrauen buhlen. Gutes Marketing ist dabei unerlässlich. Und ein solches muss, wenn es überzeugen will, eine fesselnde, eine glaubwürdige Geschichte erzählen. Alte Ideen brauchen also eine neue Erzählung oder, wie es heute heißt, ein neues Narrativ. Das verbindet Sozialdemokratie, Kapitalismus, Kirchen und weitere krisengeschüttelte Ideen und Institutionen - und eben auch Europa.

Mit dieser Notwendigkeit gehen die Betroffenen recht unbefangen um. Die Forderung nach einem "neuen Narrativ" geistert durch Interviews, Essays oder, nüchterner, "executive summaries". Doch die Forderung nach neuen "Erzählungen" mag für Konsumgüter wie Waschmittel, Autos oder Fußballklubs angehen; wenn es jedoch um die Kathedralen althergebrachter Überzeugungen geht, ist damit ein hoher Preis verbunden. Denn wer eine neue Erzählung fordert, gibt zu, dass die alte nicht mehr gilt und es auch noch andere gibt. Der Anspruch, die "Wahrheit" über Gegenwart und Vergangenheit zu erzählen, wird so aufgegeben. Schließlich ist ein neues Narrativ nichts anderes als eine neue Konstruktion der Wirklichkeit.

Wenn aber alles nur als Konstruktion begriffen wird, kommt das einem bewussten Selbstbetrug gleich. Konsequent zu Ende gedacht, liegt hierin eine Kampfansage an die Ideen der Aufklärung mit ihrer Betonung überprüfbarer Fakten. Weniger hart kann man darin auch lediglich einen weiteren Beweis erkennen, dass der Mensch doch nicht nur von der reinen Vernunft geleitet wird. Tatsächlich ist es so, dass wir noch immer glauben wollen - und deshalb den Fakten wie der Vergangenheit Erzählungen überstülpen.

Das ist nicht ohne Risiko, vor allem wenn Fiktion und Fakten passend gemacht werden, gerade aus linker Perspektive. "Legitimation durch Geschichte" hat, wie der Philosoph Rudolf Burger vor kurzem in einem Interview mit der "Wiener Zeitung" sagte, "die politische Rechte immer noch besser beherrscht als die Linke".